Liberalisierung der Sterbehilfe

Prof. Jean-Pierre Wils

Prof. Jean-Pierre Wils hat Philosophie und katholische Theologie in Leuven und Tübingen studiert und ist heute Professor für “Philosophische Ethik und Kulturphilosophie“ an der Fakultät für Philosophie, Theologie und Religionswissenschaft (Radboud Universität Nijmegen) in den Niederlanden.

Ich freue mich, dass Herr Prof. Wils sich die Zeit genommen hat, meine Fragen zu beantworten.

Herr Prof. Wils, Ihr Buch “Sich den Tod geben. Suizid als letzte Emanzipation?“ wirft wichtige Fragen zur Selbstbestimmung und dem Recht auf einen würdigen Tod auf. Was hat Sie dazu inspiriert, dieses Thema zu erforschen und darüber zu schreiben?

Prof. Jean-Pierre Wils: Die Sterbehilfe beschäftigt mich seit Jahrzehnten. Angestoßen wurde das Thema durch meine Tätigkeit als Seelsorger auf Intensivabteilungen der Universitätsklinik in Tübingen. Nach Abschluss meiner Habilitation wollte ich die Universität ein Jahr lang verlassen und in der Praxis tätig sein.

Das Jahr hat mich menschlich und akademisch sehr geprägt. Ich arbeite seit 1996 in den Niederlanden, wo die Sterbehilfe zur damaligen Zeit intensiv diskutiert wurde und bekanntlich ein liberales Gesetz existiert, das sowohl die aktive, direkte Sterbehilfe („Euthanasie“) als auch den assistierten Suizid erlaubt. Die Debatte in Deutschland habe ich mittels mehrerer Bücher ein Stückweit mitgeprägt.

Sterbehilfe
Foto: iStock/sittithat tangwitthayaphum

Sie möchten Abhängigkeiten aus dem Wege gehen, aus ihnen emanzipieren. Wer ein selbstbestimmtes Leben führt, sollte dieses Ideal auch in der letzten Phase aufrechterhalten. Der Suizid wird einer Formulierung von Thomas Macho zufolge zunehmend als eine „emanzipatorische Selbsttechnik“ verstanden, eben als emanzipatorische Eigengestaltung des Lebens bis zuletzt.        

In Ihrem Buch diskutieren Sie Suizid als eine Form der Emanzipation. Können Sie uns bitte erklären, was Sie unter diesem Begriff verstehen und wie er auf das Thema Suizid zutrifft?

Prof. Jean-Pierre Wils: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Februar 2020, das sich für eine liberale Regelung in assistierten Suizidangelegenheiten ausspricht, hebt in seiner Begründung immer wieder die Autonomie der einzelnen Person hervor. Es existiert in der Gesellschaft eine wachsende Zustimmung zum assistierten Suizid, weil man der Meinung ist, dass Menschen auch die letzte Phase ihres Lebens kontrollieren sollten.

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Welche ethischen Überlegungen spielen Ihrer Meinung nach eine zentrale Rolle, wenn es um das Thema Suizid geht, insbesondere im Kontext der individuellen Autonomie?  

Prof. Jean-Pierre Wils: Ich befürworte eine Liberalisierung der Sterbehilfe und halte das Bundesverfassungsurteil in seiner Substanz für richtig. Aber seine Begründung ist schmalspurig, weil sie auf „Autonomie“ und „Selbstbestimmung“ fixiert ist. Sterbevorgänge benötigen aber eine reichhaltige Sprache, die Raum lässt für Einwilligung, Ergebung und, Trostbedürftigkeit, nicht zuletzt auch für ein bestimmtes Maß an Passivität und Geschehen-lassen.

Gravierend finde ich, dass das Urteil ausdrücklich die Inanspruchnahme von „materiellen Kriterien“ ablehnt. Damit ist beispielsweise gemeint, dass nicht das Vorhandensein von Erkrankungen erforderlich ist, wenn Menschen eine Suizidassistenz wünschen. In der Konsequenz heißt das, dass lediglich der Suizidwunsch als solcher, insofern er auf einer eigenverantwortlichen Entscheidung beruht, genügt. Das halte ich für eine riskante Auffassung.

Die römisch-katholische Kirche bewegt sich nicht einmal in stark verlangsamter Zeitlupe.

Wie sehen Sie die Beziehung zwischen Ihrem Buch und den aktuellen Debatten über medizinisch assistierten Suizid und Sterbehilfe, besonders angesichts der abnehmenden Haltung der Katholischen Kirche gegenüber jeder Form von aktiver Sterbehilfe?

Prof. Jean-Pierre Wils: Die römisch-katholische Kirche müsste sich bewegen und ihre radikal-ablehnende Haltung überdenken, zumal die Basis ganz anders denkt. Aber diese Kirche bewegt sich nicht einmal in stark verlangsamter Zeitlupe. Da habe ich wenig Hoffnung.    

Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? “Gebet ist für mich…”

Prof. Jean-Pierre Wils: Beten im strikten Sinne des Wortes liegt außerhalb meiner Reichweite, weshalb ich sehr froh bin, dass es Menschen gibt, die sagen: „Ich bete für dich“! 

Ich danke für das Gespräch.

Hinweis: Bei der Telefonseelsorge führen ausgebildete Fachkräfte Seelsorge- und Beratungsgespräche mit Menschen in akuten Krisen oder schwierigen Lebenssituationen. Wenn du also unter Ängsten, seelischen und körperlichen Einschränkungen oder Beziehungsproblemen leidest, dich Selbstmordgedanken quälen, dann ist die Telefonseelsorge eine gute Anlaufstelle. 

Telefon: 0800 111 0111 

Sprechzeiten: täglich rund um die Uhr.

Von Prof. Jean-Pierre Wils wurden mehrere Bücher veröffentlicht (Auswahl): 
„Warum wir Trost brauchen: Auf den Spuren eines menschlichen Bedürfnisses.“ Erschienen am 15. März 2023 im Hirzel Verlag.
„Der Große Riss: Wie die Gesellschaft auseinanderdriftet und was wir dagegen tun müssen.“  Erschienen am 15. März 2022 im Hirzel Verlag.
„Sich den Tod geben. Suizid als letzte Emanzipation?“ Erschienen am 17. März 2021 im Hirzel Verlag.

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