Kirche muss sich auf Lebensvielfalt einlassen

Dr. Tobias Renner

Herr Dr. Tobias Renner hat Theologie und Politikwissenschaften studiert und ist als Referent für Theologie und Ethik beim Deutschen Caritasverband tätig. Die Caritas (lateinisch für Nächstenliebe, Hochschätzung) ist als katholischer Wohlfahrtsverband organisiert und bildet den größten unter den sechs deutschen Wohlfahrtsverbänden. Ich freue mich, dass Herr Renner sich die Zeit für dieses Interview genommen hat.

Herr Dr. Renner, schon die Wahl Ihrer Studienfächer macht deutlich, dass Sie über den Tellerrand der Theologie hinausschauen. Könnten Sie uns den inneren Zusammenhang des Studiums der Theologie und der Politikwissenschaften erläutern?

Dr. Tobias Renner: In der Theologie haben mich speziell die ethischen Fächer – Moraltheologie und Sozialethik – interessiert. In beiden Fächern kommen wir der Frage auf die Spur, wie und auf welcher Grundlage unser Zusammenleben gestaltet werden kann. Diese Frage steht auch im Fokus der Politikwissenschaft, wobei die Blickrichtung eine andere ist. Dabei gibt es natürlich Schnittpunkte.

Die Verbindung von Theologie und Politik hat sich für mich im Nachhinein als eine gute Entscheidung erwiesen.

Die Verbindung von Theologie und Politik hat sich für mich im Nachhinein als eine gute Entscheidung erwiesen. Denn wer weiß, ob ich sonst heute bei der Caritas arbeiten würde. Dabei hat mir die Politikwissenschaft nicht nur andere Perspektiven ermöglicht, mich haben vor allem die Diskussionen mit anderen Studierenden bereichert, die nichts mit Theologie am Hut hatten.

Kirchliche Strukturen verändern sich. In diesem Umbruchsprozess formuliert auch die Caritas ihre Ziele und Aufgaben neu. Was sind diese neuen Ziele und was hat der Zukunftsdialog, den die Caritas bis zum Jahr 2020 geführt hat, Ihrer Ansicht nach überhaupt erreicht?

Dr. Tobias Renner: Der Zukunftsdialog wurde 2014 vom damaligen Vorstand ins Leben gerufen, um aktuelle Herausforderungen anzugehen. Damals wurde verstärkt über das kirchliche Arbeitsrecht diskutiert. Aber auch der Skandal um den ADAC (Allgemeiner Deutscher Automobil-Club e. V.) hatte den ohnehin vorhandenen Vertrauensverlust in klassische Großorganisationen verstärkt. Mit dem Zukunftsdialog sollten diese Themen neben anderen offensiv angegangen werden. Hinter den vordergründigen Fragen ging und geht es aber darum, Caritas als ein starkes Stück Kirche auch für die Zukunft so aufzustellen, dass sie gesellschaftlich relevant ist und Menschen helfen kann.

Caritas Düsseldorf
Soziales Zentrum und Familienzentrum der Caritas in Düsseldorf
Foto: Achim Beiermann

Der Prozess begann damals mit sechs bundesweiten Veranstaltungen, bei denen Führungskräfte und Mitarbeitende aus unterschiedlichen Bereichen der Caritas in Deutschland zusammenkamen, um darüber zu diskutieren, was ihnen unter den Nägeln brennt. Dabei sind Thesen – die so genannten Wegmarken – entstanden. Zwei Wochen nach meinem Arbeitsbeginn 2015 wurden diese Thesen vorgestellt und im Rahmen einer großen Veranstaltung bearbeitet. Für mich war diese Art zu arbeiten und über Hierarchie hinweg zu diskutieren sehr eindrücklich.

Ich bin davon überzeugt, dass sich eine Kirche verändert und ihre eigene Botschaft neu kennenlernt, wenn sie sich auf die vielfältigen Lebenswirklichkeiten von Menschen einlässt.

Ich bin davon überzeugt, dass allein die Art des Zukunftsdialogs etwas verändert hat. Mit dem Abschluss 2020 hat der Prozess vielleicht formal ein Ende gefunden, viele Themen sind aber nach wie vor aktuell und werden weiterhin bearbeitet. Dies gilt beispielsweise für die Frage, wie Betroffene an Entscheidungsprozessen angemessen beteiligt werden können. Auch die Aktion #outinchurch hat die Fragen des Arbeitsrechts und den Umgang mit Diversität in der Kirche und ihrer Caritas eine neue Aktualität verliehen.

Ich bin davon überzeugt, dass sich eine Kirche verändert und ihre eigene Botschaft neu kennenlernt, wenn sie sich auf die vielfältigen Lebenswirklichkeiten von Menschen einlässt. Deswegen ist es wichtig, dass auch die Perspektiven der verbandlichen Caritas in den kirchlichen Debatten ernst genommen werden.

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Die Caritas fordert im Ukraine-Krieg humanitäre Korridore und sie stockt ihre Hilfe für die Ukraine deutlich auf. Außerdem bereitet sie die Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland vor. Die Caritas Ukraine leistet engagierte Hilfe vor Ort mit der Einrichtung von Suppenküchen, der Verteilung von Essen und Decken an die Flüchtenden. Wie sehen Sie das Verhältnis von praktischer Nächstenliebe und politischem Engagement der Caritas?

Dr. Tobias Renner: Ich glaube fest daran, dass die Idee, Gesellschaft zu verändern, ein wesentlicher Bestandteil des Christentums ist. Dabei spielt die Hilfe in Not, wie Sie sie ansprechen, eine wesentliche Rolle, sei es in Deutschland oder in der Not- und Katastrophenhilfe von Caritas international, dem Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes, gemeinsam mit Partnern vor Ort. Das Motto des Deutschen Caritasverbandes „Not sehen und handeln“ drückt das sehr gut für mich aus. Es ist beeindruckend, was wir derzeit an Hilfsbereitschaft und ehrenamtlichen Engagement erleben. Da ist es wichtig, dass viele Organisationen und Institutionen zusammenarbeiten, um gemeinsam Menschen aufnehmen, versorgen und unterstützen zu können. Und dennoch braucht es langfristig mehr als spontane Hilfe.

Caritas Düsseldorf
Soziales Zentrum und Familienzentrum der Caritas in Düsseldorf
Foto: Achim Beiermann

Wir feiern dieses Jahr die Gründung des Deutschen Caritasverbandes vor 125 Jahren. Den Gründern, allen voran Lorenz Werthmann, ging es Ende des 19. Jahrhunderts darum, die soziale Arbeit in der katholischen Kirche zu bündeln und politisch wirksam zu machen. Der Deutsche Caritasverband – so die Idee – sollte nicht nur vernetzen, sondern sich auch sozialpolitisch engagieren, auf Notlagen aufmerksam machen und an politischen Lösungen mitarbeiten. Dies ist bis heute aktuell und gilt nicht nur mit Blick auf die Menschen, die derzeit Zuflucht in Deutschland suchen, sondern auch angesichts der Gefahr, dass sich die soziale Ungleichheit in Folge des Krieges weiter verschärft.

Ein Kind aus einer Schulklasse meiner Frau erzählte im Unterricht, dass die Familie abends gemeinsam den Rosenkranz für die Menschen in der Ukraine gebetet habe. Am nächsten Tag brachte der Junge drei Tüten mit Kleidung, Bettwäsche und Handtüchern für Geflüchtete mit in die Schule. Wie sehen Sie den Zusammenhang von tatkräftiger Hilfe, politischem Engagement und der Kraft des Gebetes für die Menschen in der Ukraine?

Dr. Tobias Renner: Glaube kann Berge versetzen. Diese Redewendung verdeutlicht diesen Zusammenhang für mich. Denn Glaube und Gebet können motivieren, sich für andere einzusetzen und sich zu engagieren, indem sie unseren Blick weiten. Ein entscheidender Punkt in der christlichen Botschaft liegt für mich darin, dass sich die Welt zum Besseren verändern kann, auch wenn wir dies derzeit anders wahrnehmen mögen. Wenn wir anderen Menschen helfen, in Kontakt mit ihnen treten und Resonanz erfahren, können Entwicklungen in Gang kommen, die mehr verändern, als uns das zunächst bewusst ist.

Caritas Schriftzug
Soziales Zentrum und Familienzentrum der Caritas in Düsseldorf
Foto: Achim Beiermann

Gleichzeitig erfahren wird derzeit auf dramatische Weise, dass wir vieles nicht ändern können. Glaube und Gebete sind für mich keine Instrumente, um mich mit einer Situation abzufinden, sondern dem, was mich bewegt, einen Raum zu geben. Dinge nicht einfach hinzunehmen, sondern zu benennen, ändert die Situation nicht, kann aber helfen, sie anders zu sehen und ist vielleicht der erste Schritt, dem etwas entgegenzusetzen.

Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? “Gebet ist für mich…”

Dr. Tobias Renner: Gebet ist für mich die Möglichkeit, dem Raum zu geben, was mich bewegt. Dies kann genauso von Freude und Dankbarkeit gegenüber Gott geprägt sein, wie von Sprachlosigkeit und Klage.

Ich danke für das Gespräch.

(Hinweis zum oben verwendeten Foto von Herrn Dr. Tobias Renner: Die Bildrechte liegen bei ihm selbst.)

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