Herr Dr. Georg Henkel ist Dipl.-Theologe und als Pädagogischer Mitarbeiter beim ASG-Bildungsforum in Düsseldorf tätig. Herr Henkel ist einer der Unterzeichner von #OutInChurch, einer Aktion, in der sich vor wenigen Tagen 125 Mitarbeitende der Katholischen Kirche in Deutschland als queer geoutet haben. Ich freue mich, dass Herr Dr. Henkel sich die Zeit für dieses Interview genommen hat.
Herr Dr. Henkel, der Begriff “queer” wird zwar schon seit Mitte der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts verwendet, trotzdem denke ich, dass er für viele Menschen immer noch unverständlich erscheint. Deshalb die Frage: Was bedeutet “queer” und warum war es für Sie und 124 Mitunterzeichnende so wichtig, sich zum jetzigen Zeitpunkt dazu zu bekennen?
Georg Henkel: Es ist vielleicht leichter zu sagen, was „queer“ nicht ist: Queer ist das Nicht-Heteronormative. In einer heteronormativen Welt, wo vorherrschende Heterosexualität, patriarchale Strukturen und eine binäre Geschlechtlichkeit (Mann – Frau) zugleich als „das einzig Normale“ gelten, erscheint alles, was dieser Norm nicht genügt, als „seltsam, eigenartig, sonderbar“.
(Das ist die ursprüngliche Bedeutung von „queer“ – wie passend eigentlich für den „seltsamen“ christlichen Gott, der gegen alle Vernunftlogik liebt und handelt … aber das ist jetzt vielleicht ein anderes Thema. Jedenfalls hat „queer“ auch viel mit Humor und befreienden Perspektivwechseln zu tun.)
Queer definiert keine neue Norm. Nehmen Sie es einfach als eine Regen(bogen)schirm-Metapher. Unter diesem Schirm ist Platz für ganz Vieles, das noch immer als „unnormal“ gilt, wie z. B. eine nicht heterosexuelle Orientierung (wie schwul, lesbisch, bi- oder asexuell …) oder auf nicht zweigeschlechtliche Identität (nichtbinär, transgender, intergeschlechtlich …).
Die Zeit ist einfach reif, dass diese queere Offenheit, Vielfalt und Kreativität in einer Kirche sichtbar wird, die „allumfassend“ bereits im Namen trägt.
Aber in Wirklichkeit, Sie ahnen es, ist dieses „Nicht-Heteronormative“ einfach ein Teil der allumfassenden Normalität und Natürlichkeit des Lebens, das eben Fülle und Vielfalt ist. Ich hörte, dass kein einziges Wasserstoffatom im Universum identisch schwingt. So gesehen: Das Singuläre ist in der Schöpfung das „Normale“.
Was den zweiten Teil Ihrer Frage angeht: Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt? Die Zeit ist einfach reif, dass diese queere Offenheit, Vielfalt und Kreativität in einer Kirche sichtbar wird, die „allumfassend“ bereits im Namen trägt.
Insbesondere für Seelsorger, die bei der Kirche angestellt sind, war das mit Sicherheit kein leichter Schritt, zumal er für diese Menschen auch arbeitsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Wissen Sie, was diesen Menschen den hierzu erforderlichen Mut gemacht hat?
Georg Henkel: Ich kann nur sagen, wie ich das erlebt habe. Der gemeinsame Weg und die gegenseitige Inspiration aller Beteiligten waren sicherlich ganz wesentliche Faktoren. Und auch die Identifikation und Verbundenheit mit einer Kirche, die man eben nicht denen überlassen möchte, die sich über Ausgrenzung und Diskriminierung anderer definieren.
Gewandelt hat sich der Eindruck, letztlich immer nur alleine da zu stehen. Gewandelt hat sich auch die Selbstwahrnehmung und das Selbst-Bewusstsein. Im Grunde ist das vielleicht die wesentlichste Veränderung: der innerliche und äußerliche Klärungsprozess, die Selbstermächtigung, das vertiefte Coming-Out: Es ist gut so. Wir sind gut so. Richtig gut! Und wir gehören dazu, unbedingt.
„Für eine Kirche ohne Angst“ ist ja inklusiv zu verstehen: Mit diesem Schritt tun wir etwas für alle Menschen, die in der Kirche Angsterfahrungen machen. Nicht nur die Angst von oder vor queeren Menschen soll in der Kirche keinen Platz mehr haben. Angststrukturen insgesamt sollen erkannt und aufgelöst oder umgeformt werden: In segensreiche Ermutigungsstrukturen. Das motiviert.
Ich habe jemanden an meiner Seite, meinen Mann, der mich rückhaltlos unterstützt. Das ist ein großes Geschenk.
Schließlich gab und gibt es unglaublich viele gute Fügungen, durch die das Projekt an Kraft gewonnen hat, z. B. die berührende Dokumentation von Hajo Seppelt und Katharina Kühn. (Redaktionelle Anm.: Gemeint ist die ARD-Dokumentation „Wie Gott uns schuf – Coming Out in der Katholischen Kirche“, die am 24.01.2022 im Ersten ausgestrahlt wurde. In der ARD-Mediathek finden Sie alle Videos der Sendung.)
Erfolg macht sexy, da findet man sich selbst natürlich auch immer noch mal besser und teilt gerne die Erfahrung mit allen anderen. Und auch das muss ich sagen: Ich habe jemanden an meiner Seite, meinen Mann, der mich rückhaltlos unterstützt. Das ist ein großes Geschenk.
Was hat die Teilnahme an der Aktion #OutInChurch für Sie persönlich bedeutet? Welche Gefühle sind für Sie mit diesem offenen Bekenntnis verbunden?
Georg Henkel: Als ich von der Aktion erfahren habe, habe ich nicht lange gezögert, Kontakt zu einem der Initiatoren, Jens Ehebrecht-Zumsande aufzunehmen. Es war mir schon lange klar, dass da im beruflichen Bereich noch was zu klären ist: Entweder kann ich dort auch als Mensch mit einem Privatleben (eben als Mann, der mit einem Mann verheiratet ist), wie alle anderen sichtbar sein, oder es geht eben nicht (mehr). Und wenn diese Klärung zugleich ein Statement sein kann, das über die rein persönliche Seite hinausgeht und etwas sehr Wichtiges mitbewegen kann – umso besser!
Diese private „Leerstelle“, z. B. gegenüber dem Arbeitgeber, durch Schweigen weiter frei zu halten, fühlte sich zuletzt wirklich schräg an, zumal ich auch am Arbeitsplatz gegenüber manchen KollegInnen auch schon offen war. „Don’t ask, don’t tell“ bindet zu viel Energie. Und Sprachlosigkeit, Verbergen, Verdrängen und Beschämung bewirken in Kirche und Gesellschaft nach wie vor viel Unheil.
„Gesellschaftsbildung“ ist ein Kernanliegen des ASG-Bildungsforums – da fühle ich mich als Bildungsreferent verantwortlich. Wie kann ich das aber tun, wenn ich wesentliche gesellschaftliche Weiterentwicklungen nicht auch in meiner eigenen Person reflektiere, mitvollziehe, lebe? So empfinde ich die Aktion zugleich als natürlichen Teil meiner Arbeit.
Ich kann sicher sagen: Nicht mitzumachen war keine Alternative. Ich bin froh und dankbar, dabei zu sein.
Das heißt aber nicht, dass ich nicht auch all die Ambivalenzen, Zweifel und Ängste erlebe, die ein solcher Schritt bedeutet. Öffentlichkeit, Sichtbarkeit fühlen sich nicht einfach nur toll an. Das Persönliche, Private wird politisch und zum Ziel von Projektionen. Die eigene Geschichte meldet sich, ich durchlebe alten Schmerz und spüre neue Verletzlichkeit. Die Reaktionen können so oder so sein, Konsequenzen möglicherweise auch existentiell. Das gehört alles dazu. Ich kann aber sicher sagen: Nicht mitzumachen war keine Alternative. Ich bin froh und dankbar, dabei zu sein.
Glauben Sie, dass der seit Jahrhunderten behäbig dahin dümpelnde “Tanker” Katholische Kirche beweglich genug ist, um eine tolerantere, offenere und gleichberechtigte Richtung anzusteuern?
Georg Henkel: Da sich jetzt gerade 125 Menschen, die auch Kirche sind, sehr fröhlich bewegen und verändern, sozusagen in die Ruder oder ins Steuer greifen und starken Wind machen, möchte ich nicht ausschließen, dass die Bewegten zum Beweger werden – das sind wir ja schon jetzt geworden, innerlich und äußerlich. Ob und wie diese Bewegung institutionell verändernd wirkt, wird sich zeigen.
Die Forderungen des Manifests sind umfassend und klar. Es geht nicht nur um eine Änderung des Arbeitsrechts. Berührt sind dadurch sehr tief gehende Strukturen und doktrinäre Vorstellungen, die zu Identitätsmarkern der römisch-katholischen Kirche stilisiert worden sind. Diese Marker haben sich nicht nur seit langem gegen jede theologische oder humanwissenschaftliche Entwicklung und die universellen Menschenrechte, sondern sogar gegen ein Mindestmaß an Respekt und Liebe immunisiert, wie das „Segensverbot“ der Glaubenskongregation jüngst noch mal demonstriert hat.
Vielleicht sollte man mal schauen, was wirklich in den Tanks drin ist, statt weiter Bleche auf den Rumpf aufzuschweißen. Vielleicht muss noch sehr viel mehr Ballast abgeworfen werden. Sicher braucht es große Umbauten. Das ist unbequem, womöglich sogar schmerzhaft. Das weckt Ängste und Wut. Vielleicht zerbricht der Tanker darüber. Aber wir merken vielleicht auch, dass wir ganz gut schwimmen können oder auf leichten Booten besser vorankommen.
Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? “Gebet ist für mich…”
Georg Henkel: Gebet ist für mich zur Quelle zu gehen, einzutauchen und darin den Grund von Allem zu ahnen. Den Urgrund, aus dem all dieses wunderbare und vielfältige Leben kommt. (Ich möchte ihn jetzt nicht durch das Wort „Gott“ begrenzen.)
Ich danke für das Gespräch.