Frau Anna-Nicole Heinrich wurde im Mai 2021 zur Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland gewählt. Sie ist eine der beiden wichtigsten Repräsentant:innen der Evangelischen Kirche und macht sich stark für eine Kirche, die mutig in die Zukunft blickt und die frohe Botschaft verständlich formuliert. Ich freue mich, dass Frau Heinrich sich die Zeit für dieses Interview genommen hat.
Frau Heinrich, wenn man zum Beispiel bei Wikipedia über Ihr Leben nachliest, erfährt man, dass Sie aus einem nicht-christlichen Elternhaus stammen. Das fordert natürlich sofort zu der Frage heraus, wie Sie zum evangelischen Glauben gelangt sind und wie Sie Ihr Lebensweg bis hin zur bisher jüngsten Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland geführt hat?
Anna-Nicole Heinrich: Das erste Mal, dass ich mich richtig intensiv mit Glauben und Kirche auseinandergesetzt habe, war im Religionsunterricht. Das war für mich sehr prägend, ich habe mich später taufen lassen und bin in Kontakt zur Evangelischen Jugend gekommen. Dort hat’s einfach super viel Spaß gemacht, ich konnte ganz viel lernen und mich ausprobieren und ich habe die Erfahrung gemacht, dass mir etwas zugetraut wird. Ich wollte das weitergeben, habe da Verantwortung übernommen bis hin zur Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland – also der Bundesebene und in meiner Landeskirche. Im Mai 2021 hat mich die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Präses gewählt – ganz schön mutig.
Ähnlich wie die katholische Kirche hat auch die evangelische Kirche mit einer hohen Zahl von Kirchenaustritten zu kämpfen. Welches sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe, die zum Verlassen der Kirche führen und welche Möglichkeiten sehen Sie als Präses, dem zumindest ein Stück weit entgegensteuern zu können? Gibt es für Sie etwas Ermutigendes, das Ihnen Hoffnung macht?
Anna-Nicole Heinrich: Viele Menschen erfahren Kirche in ihrem Alltag heute nur noch an ganz wenigen Stellen. Da wo diese Kontaktpunkte zu Kirche gut gestaltet sind, wo sie Menschen etwas geben, können sie begeistern, da entstehen persönliche Kontakte, Bindungen, die für beide Seiten wertvoll sind. Ich glaube, wir müssen mehr Kontaktpunkte bieten: in den Gemeinden, in der Öffentlichkeit, im Digitalen. Und die Möglichkeiten hier auch nutzen. Denn das was dahintersteht, die Message, die wir haben, ist mega gut. Aber wir wissen auch, dass manche Dinge, wie etwa die demografische Entwicklung, nicht aufzuhalten sind.
Der russische Einmarsch in die Ukraine wurde nicht zuletzt von den Vereinten Nationen, der Europäische Union und auch der deutschen Bundesregierung scharf kritisiert und viele Länder unterstützen die Ukraine mit Hilfsgütern, inzwischen aber auch mit schweren Waffen. Wie stehen Sie als Präses dazu? Müsste sich Kirche nicht grundsätzlich gegen jede Art von Waffenlieferungen stellen?
Anna-Nicole Heinrich: Ich bin davon überzeugt, dass man echten Frieden nicht mit Waffengewalt schaffen kann. Es geht um mehr als die Abwesenheit von Krieg. Frieden ist ohne Vertrauen und Gerechtigkeit nicht möglich. Ich sehe uns vor dem Dilemma zwischen dem Wunsch nach einer gewaltfreien Konfliktlösung und der dringenden Notwendigkeit die Ukrainer:innen zu unterstützen.
Frieden ist ohne Vertrauen und Gerechtigkeit nicht möglich.
Für mich ist das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine gerade im Blick auf die völkerrechtswidrigen Kriegsverbrechen unbestritten. Der Bundestag hat Waffenlieferungen zugestimmt, innerhalb der evangelischen Kirche gibt es zu dieser Frage durchaus unterschiedliche Positionen. Ich glaube, dass das Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer:innen Waffenlieferungen hier rechtfertigt.
Sie sind als Präses für sechs Jahre gewählt. Welche Ziele haben Sie sich für diesen Zeitraum gesetzt? Gibt es darunter ein oder mehrere Ziele, deren Erreichen Sie besonders zufrieden machen würde?
Anna-Nicole Heinrich: Als 13. Synode haben wir schon erste Weichen gestellt. Klar ist, dass wir weiter mit voller Kraft daran arbeiten werden, dass Kirche ihrem Auftrag auch in sich verändernden gesellschaftlichen Umständen gerecht wird. Kirche als Unterstützerin, Ermöglicherin, die christliches Leben anregt und unterstützt, die Menschen auf der Suche nach Halt in aller Unsicherheit begleitet. Das ist das große Ziel, zu dem aber eben viele konkrete Felder gehören.
Kirche muss safer space werden, deshalb ist klar, dass Aufarbeitung und Schutz vor sexualisierter Gewalt weiter vorangetrieben werden müssen. Kirche braucht den digitalen Raum und der digitale Raum braucht Kirche. Ein Raum der Kommunikation, dessen Potential wir nutzen müssen und der auch so viele essenzielle Fragen mit sich bringt, zu denen wir eine Haltung entwickeln und artikulieren können. Ich freue mich drauf, dass wir als Synode nun für sechs Jahre gemeinsam an unserer Kirche bauen können und dabei sicher begleitet werden, auch in den schweren schmerzlichen Prozessen.
Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? “Gebet ist für mich…”
Anna-Nicole Heinrich: Gebet ist für mich ein Gespräch mit Gott. Und wenn dieses Gespräch ehrlich ist, schenkt es Vertrauen und gibt mir Raum, auch mal Verantwortung abzugeben und Dinge, die mich stören, in Gottes Hände zu legen. Und: Beim Beten geht es ja nicht nur um mich selbst. Ich nehme ganz bewusst andere in den Blick: meine kranke Nachbarin, die Menschen auf der Flucht oder in Gefahr. In der Fürbitte für andere Menschen kann ich Anliegen direkt vor Gott bringen, die in der breiten Öffentlichkeit oft unterzugehen drohen.
Ich danke für das Gespräch.
(Hinweis zum oben verwendeten Foto von Frau Anna-Nicole Heinrich: Die Bildrechte liegen bei der EKD/Fotograf Peter Bongard.)