Von Angesicht zu Angesicht

Heinz Frantzmann

Heinz Frantzmann war als evangelischer Pfarrer in Düsseldorf tätig, in der Kirchengemeinde Düsseldorf-Eller und bei der Diakonie. Im Jahr 2019 wurde er in den Ruhestand verabschiedet.
Ich bin dankbar dafür, dass sich Herr Frantzmann bereit erklärt hat, in 2022 die monatlichen Beiträge für die Kolumne “Angedacht” zu schreiben.

Von Angesicht zu Angesicht

Reichlich verrückt, war mein erster Gedanke. Eine Frau in einem langen weißen Gewand sitzt auf einem Stuhl. Sie tut nichts anderes als dazusitzen. 75 Tage lang. 

Sie sitzt in einem Ausstellungsraum des New Yorker Museums für moderne Kunst. Ihr gegenüber, in dem großen und ansonsten leeren Raum, steht ein zweiter Stuhl. Dort kann sich von den Museumsbesuchern hinsetzten, wer will. 

Kann so lange sitzen blieben, wie er oder sie mag. 

Kann dort sitzen und sich von der Frau anschauen lassen. 

Die Frau ist die serbische Künstlerin Marina Abramowic´. 

In der Kunstszene ist sie bekannt für ihre oft provokativen Auftritte. 

Ihre Form der Aktionskunst im Museum in New York ist eine stille Darbietung, sehr still. 

Ein in sich versammelter Mensch, der nichts anderes tut, als still dazusitzen und sein Gegenüber anzuschauen. Namenlose Menschen, aber auch prominente Museumsbesucher, Schauspieler, Politiker, Künstlerkolleginnen, alle sind davon fasziniert. 

Sie alle, so berichten die Medien, können sich der Wirkung dieser Situation nicht entziehen. 

Viele sind so gerührt, dass ihnen die Tränen fließen. 

Einige fragen nach dem Sinn der Sache. 

Warum quält sich die Frau so? Was will sie damit sagen? Welchen Sinn hat das alles? 

Das Geheimnis, so schrieb eine Zeitung, liegt wohl darin, dass mit dieser künstlerischen Inszenierung drei Dinge geboten werden, die in unserer Lebenswelt besonders knapp sind. 

Erstens: Jemand schenkt Zuwendung und ungeteilte Aufmerksamkeit, selbst wenn das für ihn möglicherweise mit großen Anstrengungen oder Schmerzen verbunden ist. 

Zweitens: Jemand verschenkt Zeit, unendlich viel Zeit, und das in einer Stadt wo sonst Hektik und Geschwindigkeit triumphieren. 

Und drittens: Jemand gibt Sicherheit und Verlässlichkeit. Denn wenn eines sicher war in der Zeit dieser Ausstellung, dann dies, dass Marina Abramovic´ auf ihrem Stuhl im Museum anzutreffen war. Sie war da! 

Ich hatte nie die Gelegenheit, auf dem Stuhl gegenüber der Künstlerin Platz zu nehmen und mich der Eigenart dieser besonderen Situation auszusetzen. Aber es fällt mir nicht schwer, die Faszination nachzuvollziehen, die von davon ausgeht. 

Ich finde, es handelt sich um eine höchst religiöse Szene. Sie erinnert mich an die Zusage, die in einer Segenshandlung am Ende eines Gottesdienstes geschieht. 

“Gott lasse sein Angesicht leuchten über dir. Gott erhebe sein Angesicht auf dich”, heißt es in der biblischen Segensformel im 4. Buch Mose. 

Gott segnet einen Meschen, indem er ihn anschaut, ihm Zuwendung schenkt. 

Er erkennt sein Gegenüber; das kann uns selbstbewusst machen und hoffentlich auch ermutigen zum wachsamen Nachdenken und Umdenken, vielleicht auch zum Schmunzeln über einen selbst. 

Gott lässt sein Angesicht leuchten… er sieht uns mit all unseren Farben und Narben. 

Gott segnet einen Menschen, indem er ihn anschaut. 

Das heißt zugleich, er nimmt sich Zeit. 

Im Fluss des Geschehens, in der Hektik der vielen Augenblicke und Ereignisse, die sich überstürzen und uns immer wieder neu herausfordern, tritt Ruhe ein, wenn Gott sein Angesicht auf einen Menschen hebt. So wird Zeit, die wir erleben, zu einer sinnvollen Zeit, gerade auch in leidvollen Situationen. 

Und schließlich: Gott ist verlässlich. Er ist da, weil und indem er mich anschaut. 

Ich muss ihn nicht suchen, weil er mich längst gefunden hat. 

Sein Name lautet: Ich bin da und ich bin der, der ich sein werde. 

Für mich knüpft Marina Abramovic´ an diese religiöse Urszene an.