Dr. Sascha Flüchter ist evangelischer Theologe und Mathematiklehrer, Kirchenrat und Pfarrer, Systemischer Berater und Supervisor (Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie) und nicht zuletzt Leiter des Dezernats „Schulische Bildung und kirchliche Schulen“ im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR). Ich freue mich, dass Herr Flüchter sich die Zeit genommen hat, meine Fragen zu beantworten.
Herr Dr. Flüchter, können Sie uns erläutern, was das evangelische Profil der kirchlichen Schulen ausmacht, bzw. inwiefern es sich vom Profil weltlicher Schulen unterscheidet?
Dr. Sascha Flüchter: Die zehn Schulen in Trägerschaft der Evangelischen Kirche im Rheinland (sieben Gymnasien, zwei Gesamtschulen und der Schule für Circuskinder des Landes NRW mit über 7500 Schülerinnen und Schülern) sind sogenannte Ersatzschulen. Sie vergeben die gleichen Abschlüsse wie staatliche Schulen, haben daneben aber Freiräume, um Schule als Lernort und Lebensraum für Schülerinnen und Schüler und deren Familien, Lehrerinnen und Lehrer und alle übrigen Mitarbeitenden mit einem besonderen evangelischen Profil zu gestalten.
Dazu gehören spezielle Angebote wie Schulseelsorge, Gottesdienste und Andachten, Tage religiöser Orientierung, verpflichtender Religionsunterricht in allen Jahrgangsstufen sowie diakonisches und ökumenisches Engagement.
Im pädagogischen Handeln und im gemeinsamen Leben an den Schulen ist das Evangelium als Tiefendimension erlebbar.
Das evangelische Profil der Kirchlichen Schulen ist aber mehr als das. Im pädagogischen Handeln und im gemeinsamen Leben an den Schulen ist das Evangelium als Tiefendimension erlebbar: Eine Schulgemeinde, in der die Menschfreundlichkeit Gottes im täglichen Miteinander spürbar ist. Eine Schulkultur, in der Kinder und Jugendliche Freiräume zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit finden. Unterrichtliche und außerunterrichtliche Angebote, die Freiheit und Verantwortung fördern, weil es uns nicht nur um gute Schulbildung, sondern vor allem um ganzheitliche Lebensbildung geht.
Das Erzbistum Köln wird das vor über 100 Jahren gegründete Mädchengymnasium Liebfrauenschule in Bonn zum 31. Juli 2029 schließen. Als ein Grund wird die seit mehreren Jahren abnehmende Zahl der Schülerinnen genannt, die aus meiner Sicht mit Sicherheit auch an die weiter steigende Zahl von Kirchenaustritten gekoppelt ist. Wie sieht angesichts dieser Fakten nach Ihrer Einschätzung die Zukunft der kirchlichen Schulen aus und welche Rolle werden sie in der Gesellschaft spielen?
Dr. Sascha Flüchter: Glücklicherweise können wir bei unseren Schulen keinen Rückgang der Schüler:innenzahl feststellen. Ganz im Gegenteil: Wir haben an nahezu allen Schulen (z.T. deutlich mehr) Anmeldungen als Schulplätze. Die Kirchlichen Schulen sind gefragt.
Was die Zukunft der Kirchlichen Schulen angeht, sehe ich ein großes Potential, sowohl für die Kirche als auch für die Gesellschaft. Schulen sind in besonderer Weise lebensweltlich relevante Orte. Schülerinnen und Schüler verbringen hier viel Zeit und machen in einer wichtigen Entwicklungsphase prägende Erfahrungen.
Mit ihren Kindern sind auch Eltern, Geschwister und Großeltern eng mit der Schule verbunden. Für die Lehrerinnen und Lehrer ist häufig das gesamte Berufsleben an einer Schule verortet und Berufliches und Privates sind vielfältig miteinander verknüpft. Über die Vernetzung mit der Kommune, der Kirchengemeinde, den Vereinen und Initiativen im Umfeld sind Schulen nicht selten auch für ganze Ortsteile relevante Orte.
Mit religiöser Diversität umzugehen, Respekt, Toleranz und Konfliktfähigkeit zu lernen, ist ein wichtiges Bildungsziel.
Schulen sind Lernorte und Lebensräume zugleich und bilden wichtige Schnittstellen für den Kontakt und die Kommunikation mit Menschen in einem prägenden Lebensbereich. Eigene Schulen eröffnen der Kirche die Möglichkeit, den lebensweltlich relevanten Ort Schule zur Stärkung der Kirchenmitgliedschaft junger Menschen weiterzuentwickeln. Dabei sind nicht allein die Schülerinnen und Schüler und deren Familien sowie die Lehrkräfte an den zehn Schulen im Blick, sondern auch die Stärkung und Weiterentwicklung von Religionsunterricht und Schulseelsorge an staatlichen Schulen und die Erprobung profilierter Gemeindeformen für die junge Generation.
Für die Gesellschaft sehe ich einen wichtigen Beitrag der Kirchlichen Schulen als Modell für den Stellenwert des Religiösen für gute Schulen. Auch wenn die Zahl der Kirchenmitgliedschaften in den großen christlichen Kirchen zurückgeht, bedeutet das nicht den Rückgang des Religiösen in der Gesellschaft insgesamt, sie wird allerdings deutlich diverser.
Schulen fürchten leider oft, dass die religiöse Diversität der Schülerinnen und Schüler zu Konflikten führt, die den Schulfrieden stören. Mit religiöser Diversität umzugehen, Respekt, Toleranz und Konfliktfähigkeit zu lernen, ist ein wichtiges Bildungsziel. Dazu braucht es allerdings mehr und nicht weniger Religiosität an der Schule. Das ist an unseren Schulen der Fall. Keine unserer Schulen ist darauf ausgerichtet, ausschließlich evangelische Schülerinnen und Schüler aufzunehmen.
Schule als Lernort und Lebensraum mit einem evangelischen Profil zu gestalten, ist für uns auch nicht von einer homogenen evangelischen Schülerschaft abhängig. Da, wo die religiöse und weltanschauliche Pluralität der Schülerschaft besonders groß ist, weil wir z.B. die einzige weiterführende Schule am Ort sind (Johannes Löh Gesamtschule in Burscheid), nehmen unsere Schulen die Herausforderung an, ein evangelische Profil mit einer multireligiösen Schülerschaft zu gestalten und zu leben, und entwickeln entsprechende Modelle.
Seit Jahren wird über alternative Konzepte eines Religionsunterrichts diskutiert von Lebenskunde-Ethik-Religion in Berlin bis zum Konfessionell-Kooperativen-Religionsunterricht bzw. der Einführung eines Wahlfaches Religion. Religionsunterricht am Lernort Schule: Kann das überhaupt ein tragfähiges Konzept für die Zukunft sein?
Dr. Sascha Flüchter: Wie schon gesagt, um in einer pluralen Gesellschaft mit Religiosität offen und frei umgehen zu können, braucht es geschützte Lernorte für das Thema Religion. Wie diese an staatlichen Schulen sinnvoller Weise ausgestaltet werden, darüber wird gegenwärtig kontrovers diskutiert.
Für die verschiedenen Modelle gibt es jeweils gute Gründe. In meinen Augen ist für den Erfolg religiöser Bildung wichtig, dass es eine authentische Begegung mit den Religionen und ihren Positionen gibt. Es darf nicht einfach nur “über” den christlichen, den islamischen, den jüdischen Glauben geredet werden, sondern es muss “mit” gläubigen Christinnen und Christen, Muslima und Muslimen, Jüdinnen und Juden geredet werden.
Kinder, Jugendlichen und junge Erwachsene müssen Lehrkräften ihrer eigenen Religion und Lehrkräften anderer Religionen begegenen, die modellhaft religiöse Haltungen und Positionen transparent, nachvollziehbar und hinterfragbar machen. Das geht für mich eigentlich nur in einem konfessionellen Religionsunterricht, der kooperativ mit dem Unterricht anderer Konfessionen und Religionen zusammenarbeitet.
An unserer Johannes-Löh-Gesamtschule in Burscheid erproben wir das gerade. Wie an allen Schulen der EKiR nehmen dort alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend am Religionsunterricht teil. Neben evangelischem und katholischem Religionsunterricht gibt es an der Johannes-Löh-Gesamtschule auch islamischen Religionsunterricht und in allen Jahrgangsstufen finden interreligiöse Projekte statt, die kooperativ vorbreitet und verantwortet werden. Dieses sog. Burscheider Modell hat neben den vielen anderen Modellen seinen Platz in der Diskussion nach neuen Konzepten für den Religionsunterricht. Aus den genannten Gründen halte ich es für einen Schritt in die richtige Richtung.
Wir müssen als Kirche verlässliche und einfühlsame Wegbegleiterin junger Menschen auf der Suche nach eigenen Antworten sein.
Religionsunterricht ist inzwischen häufig der letzte Kontakt, den junge Menschen mit der Kirche haben. Wie kann man heute als Kirche Ihrer Ansicht nach für Kinder und Jugendliche überhaupt noch „attraktiv“ sein – auch über den Religionsunterricht hinaus?
Dr. Sascha Flüchter: Wir müssen als Kirche die jungen Menschen ermutigen, ihre Fragen zu stellen. “Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens” (Martin Heidegger). Wir müssen als Kirche verlässliche und einfühlsame Wegbegleiterin junger Menschen auf der Suche nach eigenen Antworten sein. Dabei werden wir auch nach unseren Fragen und Antwortversuchen gefragt werden. Dann müssen wir gesprächsbereit sein, in einer Sprache, die unser Gegenüber verstehen kann. Unsere Kirche muss Lernort für Lebensfragen und Lebensraum für Lernprozesse sein. Offen für die Mitgestaltung junger Menschen, bereit, sie Verantwortung übernehmen zu lassen und mit zu entscheiden, wohin die Reise geht.
Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? “Gebet ist für mich…”
Dr. Sascha Flüchter: Gebet ist für mich das, was meinem Tag Struktur und Halt gibt.