Nahtoderfahrung – Ist das Jenseits unsere eigentliche Heimat?

Prof. Dr. Popkes

Herr Prof. Enno Edzard Popkes ist evangelischer Theologe und hat einen Lehrstuhl für Geschichte und Archäologie des frühen Christentums und seiner Umwelt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Außerdem ist er Mitbegründer und Vorsitzender der “Kieler Akademie für Thanatologie e.V.”. Ich freue mich, dass Herr Prof. Popkes sich für die Beantwortung der folgenden Fragen bereit gefunden hat.

Herr Prof. Popkes, als Thanatologie bezeichnet man – in Kurzform – die Wissenschaft, die sich mit dem Sterben und dem Tod beschäftigt. Die Theologie betrachtet das Gebiet der Thanatologie als Teil ihrer Disziplin. Könnten Sie dies bitte erläutern? 

Prof. Enno Edzard Popkes: Zunächst muss ich einen Teilaspekt Ihrer Frage aufnehmen und ergänzen. Theologie betrachtet die Thanatologie – leider – nur teilweise und selten als einen Teil ihrer Arbeitsgebiete. Aber ich möchte meinen Beitrag dazu leisten, dass sich dies ändert.

Dazu folgende grundlegende Hinweise: Abgeleitet von dem griechischen Begriff thanatos ist Thanatologie die ,Wissenschaft vom Tod‘. Die generelle Aufgabe der Thanatologie besteht darin, alle wissenschaftlichen Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen, die für das Verständnis des Phänomens ,Tod‘ von Bedeutung sind. Die aktuelle Aufgabe der Thanatologie besteht darin, dass die bereits bestehenden Projekte miteinander vermittelt werden. Und in diesem Rahmen können auch verschiedene Disziplinen und Arbeitsfelder der Theologie sich der Thanatologie widmen. 

Ein Teilbereich der Thanatologie betrifft die so genannten Nahtoderfahrungen. Worum handelt es sich hierbei?

Prof. Enno Edzard Popkes: Zunächst möchte ich hervorheben, dass der Begriff ,Nahtoderfahrungen‘ teilweise unpräzise, teilweise falsch ist. Mit diesem Begriff werden Erfahrungsmuster bezeichnet, die Menschen machen können, die dem Tod nahe waren oder die sogar schon für tot erklärt wurden. Diese Erfahrungsmuster können jedoch auch völlig unabhängig von Todesnähe auftreten, z.B. in Meditationen. Ebenso sind viele Menschen dem Tod nah, ohne dass sie jene Erfahrungsmuster erleben. 

Im Bewusstsein dieses Vorbehaltes kann ich Folgendes festhalten: Meines Erachtens eröffnen wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Nahtoderfahrungen im Speziellen und mit dem Phänomen ,Tod‘ im Generellen Zugangsperspektiven zu dem überaus komplexen Themenfeld, das gemeinhin als das ,Leib-Seele-Problem‘ oder das ,Geist-Materie-Problem‘ bezeichnet wird.

Es geht um die Frage, in welchem Verhältnis jene Dimensionen menschlicher Existenz zueinander stehen, die mit Begriffen wie ,Körper‘, ,Materie‘, ,Leib‘, ,Seele‘, ,Geist‘, ,Bewusstsein‘ oder ,Selbstbewusstsein‘ bezeichnet werden. Die Diskurse in einigen wissenschaftlichen Disziplinen vermitteln freilich den Eindruck, dass das ,Leib-Seele-Problem‘ eigentlich kein Problem mehr sei.

Stattdessen wird – zuweilen bewusst, zuweilen unbewusst – ein sogenanntes ,reduktiv-materialistisches Menschenbild‘ vorgesetzt. Einem solchen Menschenbild zufolge können jene Dimensionen menschlicher Existenz, die mit Begriffen wie ,Seele‘, ,Geist‘, ,Bewusstsein’ oder ,Selbstbewusstsein‘ bezeichnet werden, auf materielle bzw. physiologische Grundlagen zurückgeführt werden.

Darstellung des göttlichen Lichtes
Foto: Wikipedia/gemeinfrei

Die sogenannte ,Seele‘ bzw. das ,Selbstbewusstsein‘ sind demnach nichts anderes als ein Produkt oder Nebenprodukt von physiologischen Vorgängen im Gehirn eines Menschen. Dies führt dazu, dass von einigen Diskursteilnehmer*innen der Begriff ,Seele‘ oftmals schlicht vermieden wird. Exemplarisch sei auf jene wissenschaftliche Disziplin verwiesen, die sich ihrem Namen nach eigentlich einer wissenschaftlichen Erforschung der Seele widmen sollte, also die Psychologie.  

Warum die Diskurse zum Leib-Seele-Problem im Generellen und den damit verbundenen Verständnissen des Phänomens ,Tod‘ im Speziellen nach wie vor sehr kontrovers verlaufen, kann leicht erläutert werden. Das Leib-Seele-Problem kann nur angemessen aufgearbeitet werden, wenn sehr unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen miteinander ins Gespräch gebracht werden (u.a. aus den Bereichen der Medizin, Psychologie, Psychiatrie, Neurophysiologie, Philosophie, Soziologie, Physik, Ethnologie, Theologie, Religionswissenschaft etc.).

Dies bedeutet, dass kein(e) Wissenschaftler*in, die bzw. der sich an diesen Diskursen beteiligt, in jedem Wissenschaftsgebiet ein(e) ausgewiesene(r) Expert*in sein kann. Dies bedeutet ebenso, dass alle an den Diskussionen beteiligten Wissenschaftler*innen dokumentieren müssen, in welchem Fachgebiet ihre Kernkompetenzen liegen und in welchen Gebieten sie auf die Expertisen anderer Fachbereiche angewiesen sind.

Gleichwohl sollte es allen Diskursteilnehmer*innen möglich sein zu beobachten, in welcher Weise in einem fremden Fachgebiet bzw. zwischen fremden Fachgebieten Diskussionen geführt werden. Es geht um die Frage, ob die an den Diskussionen beteiligten Personen auf die jeweiligen Beobachtungen, Fragen und Argumente anderer Wissenschaftler*innen eingehen oder ob sie lediglich aneinander vorbeireden.

Letzteres lässt sich leider in vielen Diskursfeldern beobachten, die für ein wissenschaftliches Verständnis des Phänomens ,Tod‘ von Relevanz sind. Von einigen Diskursteilnehmer*innen werden seit Jahren die gleichen Argumente wiederholt, ohne dass auf die an sie gerichteten Fragen ernsthaft eingegangen wird. Zuweilen werden nicht nur die gleichen Argumente wiederholt, sondern sogar die gleichen Argumentationskreisläufe. Dies ist erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch schlicht defizitär.

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Eine angemessene Aufarbeitung des Themenfeldes wird jedoch nur möglich sein, wenn es zum Aufbau interdisziplinärer Arbeitsgruppen kommt, in welchen Wissenschaftler*innen jener unterschiedlichen Fachbereiche sich kontinuierlich dem Thema widmen können. Eine zentrale Aufgabe solcher Kooperationen besteht auch darin, die erkenntnistheoretischen und methodischen Paradigmen und Prämissen, die sich innerhalb einzelner Wissenschaftsfelder ausgebildet haben, in die Reflexionen einzubeziehen und in Bezug auf ihre Angemessenheit zu überprüfen.

Wie stehen Sie als Theologe zum Forschungsbereich der „Nahtoderfahrungen“? 

Prof. Enno Edzard Popkes: Ich sehe es als meine Aufgabe als Theologe an der Universität Kiel, die wissenschaftliche Erforschung des Phänomens Tod im Generellen und von Phänomenen in Todesnähe im Speziellem als ein Arbeitsgebiet einer wissenschaftlichen Theologie zu etablieren. Dazu haben wir im Jahr 2018 die „Kieler Akademie für Thanatologie“ gegründet (vgl. www.kiath.de und den Youtube-Kanal „Kieler Akademie für Thanatologie e.V.“). Und wenn Kolleg*innen anderer Fakultäten dies dann übernehmen möchten, können sie sich gerne an diesen Konzepten orientieren. 

Immer weniger Christinnen und Christen glauben noch an ein „Ewiges Leben“. Inwiefern können die Ergebnisse der Nahtodforschung gläubigen Menschen vielleicht den Glauben an ein Weiterleben im Jenseits zurückgeben?

Prof. Enno Edzard Popkes: Diesbezüglich muss ich zunächst einen Sachverhalt mit Nachdruck festhalten. Eine christliche Religiosität, die den Glauben an ein Leben nach dem Tod aufgegeben hat, hat ein zentrales Merkmal ihrer Identität verloren.

Bereits für das frühe Christentum war der Glaube an die Auferstehung Jesu von den Toten der zentrale Gründungsimpuls. Allerdings war von Beginn an umstritten, was unter Auferstehung verstanden werden soll. Diese Kontroversen können heute neu betrachtet und wiederbelebt werden. Und einen Aspekt möchte ich sowohl als Wissenschaftler, als auch als gläubiger Christ hervorheben: Für mich ist es schon gar keine Frage mehr, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Für mich steht vielmehr eine andere Frage im Vordergrund.

Diese Frage verbirgt sich hinter dem folgenden Phänomen: Sehr viele Menschen, denen Nahtoderfahrungen zuteil wurden, vertreten die Vorstellung, dass sie ,dort‘ in ihre eigentlich Heimat zurückgekehrt sind und dass sie gar nicht mehr ,hierher‘ zurückkehren wollten. Daraus ergibt sich für mich die folgende Frage: Wenn ,dort‘ unsere himmlische Heimat ist, warum sind wir dann eigentlich ,hier’? Dies ist für mich die zentrale Frage künftiger Diskussionen zu Nahtoderfahrungen.  

Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? “Gebet ist für mich … „

Prof. Enno Edzard Popkes: “Gebet ist für mich eine Verbindung mit der geistigen Welt und – wenn ich dies so frei sagen darf – mit jenen ,Wesen‘, die in jener jenseitigen Welt leben und – so eine zentrale Überzeugung christlichen Glaubens – uns auf unserem Lebensweg beistehen möchten, also vor allem mit Gott, mit Jesus und mit dem Heiligen Geist. 

Als ein Wissenschaftler an der Universität Kiel, der möglichst neutral die Einwicklungsgeschichte des frühen Christentums beschreiben möchte, kann ich festhalten, dass Gebet von Beginn an ein zentrales Merkmal einer christlichen Religiosität war. Dies ist bis in die Gegenwart so geblieben. Und als ehrenamtlicher Mitarbeiter in verschiedenen Gremien meiner Kirche setze ich mich dafür ein, dass meine Mitmenschen dazu ermutigt werden, eine kontinuierliche Gebetspraxis zu leben. Ich selbst praktiziere dies jeden Tag in verschiedenen Situationen. Und ich kann mir ein Leben ohne diese Gebetspraxis nicht vorstellen. 

Kurzvita

Prof. Dr. Enno Edzard Popkes, Studium der Evangelischen Theologie und Philosophie in Hamburg und Tübingen (als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes); Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität München (2004); Habilitation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (2007), Heisenbergstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (2007-2010); seit 2010 Professor für Geschichte und Archäologie des frühen Christentum und seiner Umwelt an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Mitbegründer und Vorsitzender der „Kieler Akademie für Thanatologie e.V.‘ (www.kiath.de).

Ehrenamtlich tätig in verschiedenen Gremien der ,Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland‘ (,Nordkirche‘), u.a. Landessynode, Kreissynode, Theologische Kammer, Kirchenvorstand.

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