
Der Zweite Weltkrieg, eine Zeit unfassbaren Leids, endete in Europa am 8. Mai 1945. Etwa 65 Millionen Menschen starben, darunter ungefähr sechs Millionen Juden, die von den Nationalsozialisten umgebracht wurden. Angesichts solcher Gräueltaten bleibt man fassungslos zurück und stellt sich die bohrende Frage: Warum hat Gott das zugelassen? Weshalb schreitet ein allmächtiger Gott nicht ein, wenn Menschen einander so grausam vernichten?
Dieser Text möchte keine simplen Antworten geben. Er will weder beschwichtigen noch Erklärungen liefern, die das Geschehene verharmlosen. Vielmehr geht es darum, den Schmerz, die Wut und das Unverständnis wirklich ernst zu nehmen. Es ist völlig in Ordnung, wütend zu sein. Man darf Gott anschreien, weil wir nicht begreifen können: Warum greift ein Gott, der sich Vater nennt, nicht ein, wenn seine Kinder sich gegenseitig töten?
Diese Frage ist so alt wie der Glaube selbst. Die Bibel verschweigt das Leid keineswegs – im Gegenteil: Sie ist voll von Klagen, Fragen und Vorwürfen an Gott. Schon Hiob, ein frommer Mann, kämpft mit der Frage, warum rechtschaffene Menschen leiden müssen. Sogar Jesus selbst ruft am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? “ (Markus 15,34).
Das Leid in der Welt bleibt ein Mysterium, das unser Verstand nicht lösen kann. Viele haben versucht, Antworten zu finden: Manche sehen den Schlüssel in der Freiheit des Menschen. Gott hat uns einen freien Willen gegeben – und diese Freiheit beinhaltet auch die Möglichkeit zum Bösen. Wenn Gott jedes Unrecht sofort unterbinden würde, gäbe es keine wirkliche Freiheit mehr. Doch so logisch diese Erklärung auch sein mag, sie lindert niemandes Schmerz.
Andere wiederum sagen: Gott leidet mit uns. Er ist nicht fern, sondern mitten im Leid. Im Gekreuzigten zeigt sich ein Gott, der das Leid kennt und es selbst erlebt hat. Das ist kein billiger Trost – aber es ist ein Unterschied zu einem fernen, unberührbaren Gott.
Und dann gibt es die Hoffnung: Die Hoffnung, dass das Leid nicht das letzte Wort hat. Christen glauben an die Auferstehung, daran, dass Gott eines Tages alles Leid und alle Tränen beseitigen wird. Das ändert zwar nichts an der Vergangenheit – aber es eröffnet eine Perspektive über den Tod hinaus.
Letztendlich bleiben viele Fragen unbeantwortet. Wer trauert, wer fassungslos vor dem Bösen steht, darf diese Fragen stellen. Glauben bedeutet nicht, einfache Antworten zu haben, sondern mit Gott im Gespräch zu bleiben, auch wenn man klagt und zweifelt. Dietrich Bonhoeffer, der selbst Opfer des NS-Regimes wurde, schrieb: „Gott gibt uns nicht alles, was wir uns wünschen, aber er erfüllt seine Zusagen.“ Vielleicht liegt darin ein Hinweis: Nicht alle unsere Fragen werden hier beantwortet. Doch wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott uns nicht verlässt – weder im Leid noch im Zweifel.