Soldaten sind keine Mörder

Karsten Wächter

Pfarrer Karsten Wächter ist Militärdekan bei der Bundeswehr. Darüber hinaus ist er als Autor in der evangelischen Rundfunkarbeit für den Südwestrundfunk (SWR) tätig. Ich freue mich, dass ich ihn für die Beantwortung der folgenden Fragen gewinnen konnte.

Herr Pfarrer Wächter, bis vor wenigen Jahren waren Sie evangelischer Gemeindepfarrer in der pittoresken, knapp 30.000 Einwohner großen Kurgemeinde Bad Neuenahr-Ahrweiler. Inzwischen wirken Sie als Militärdekan bei der Bundeswehr und sind seelsorgerisch für die Hardthöhe in Bonn zuständig. Was hat Sie veranlasst, in die Sonderseelsorge zu wechseln?

Herr Pfarrer Wächter: Auch wenn ich den Dienst in der Gemeinde als sehr erfüllend empfunden habe, habe ich gemerkt, dass mein Herz weiter für die Militärseelsorge geschlagen hat. Ich war ja bereits 12 Jahre als Standortpfarrer in Koblenz tätig. Der Dienst unter den Soldatinnen und Soldaten ist aus mehreren Gründen für mich sehr reizvoll: Man hat vorwiegend mit Männern, jungen Männern zu tun – also eine Gruppe, die in der Kirchengemeinde eher weniger vorkommt. Besonderer Schwerpunkt war die Rüstzeitarbeit, in der sich eine richtige kleine Gemeinschaft aus Familien gebildet hat. Das waren immer Zeiten intensiven Austauschs und die Möglichkeit, geistliches Leben mit einfachen Mitteln zu praktizieren. Und auch die Rüstzeiten mit Soldaten waren immer sehr prägend.

Die Soldatinnen und Soldaten sind verpflichtet, sich ethisch weiterzubilden.

Ein zweiter Schwerpunkt war und ist der sogenannte Lebenskundliche Unterricht. Die Soldatinnen und Soldaten sind verpflichtet, sich ethisch weiterzubilden. Diese Auseinandersetzung mit ganz praktischen, aber auch grundsätzlichen Fragen rund um den Soldatenberuf, aber auch die persönlichen Entscheidungen wie Sterbehilfe, Pränataldiagnostik usw. erlebte ich als sehr bereichernd. Und dann ist natürlich die Seelsorge und die Begleitung bei Sterbefällen, und immer wieder auch bei Taufen und Trauungen, die fast wie in der Gemeinde sind.

Ich erlebe die Militärseelsorge als Dienst in einer besonderen Arbeitswelt. Ich muss mich dort mehr der „Welt“, also auch kritischen Haltungen aussetzen – das ist für meinen eigenen Glauben immer wieder eine gute Herausforderung.

Für die Soldatinnen und Soldaten, die einen christlichen Hintergrund haben, ergibt sich bei Einsätzen zur Friedenssicherung im Ausland ein Dilemma und zwar im Hinblick auf das fünfte Gebot “Du sollst nicht töten”. Wie gehen Sie als Seelsorger damit um?

Herr Pfarrer Wächter: Ich bin selbst Kriegsdienstverweigerer. Ich würde nie eine Waffe in die Hand nehmen, um einen Menschen zu töten. Aber 2009, als ich in Kunduz war, hat sich die Frage der Nothilfe bzw. Notwehr ganz neu gestellt. 1983, bei meiner mündlichen Verhandlung, klang das noch sehr hypothetisch und plakativ: „Stellen Sie sich vor, sie gehen mit ihrer Freundin durch einen Wald. Plötzlich kommt eine Horde Russen und will Ihre Freundin vergewaltigen. Sie haben ein Gewehr. Was machen Sie?“

Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan
Foto: Pixabay

2009 sprach mich ein junger Soldat an: „Herr Pfarrer! Wenn wir „Deichbruch“ haben (das bedeutet: feindliche Kräfte dringen in das Feldlager ein) und ich liege verletzt im Graben, mein Gewehr liegt neben mir – was machen Sie da?“ – Das war damals ein realistisches Szenario. Ich antwortete: „Ich werde sicher nicht Ihre Hand halten und Sie trösten. Ich bin zwar nicht an der Waffe ausgebildet, aber ich werde Ihr Leben und mein eigenes so gut verteidigen, wie ich kann.“

Notwehr und Nothilfe sind die einzigen legitimen Situationen, in denen ich Gewalt anwenden darf. Das ist von der Charta der Vereinten Nationen abgedeckt. Und ich glaube, auch von der Bibel. Denn im 5. Gebot ist wörtlich die Rede davon, dass man nicht morden darf. Dieses Wort kommt nur dreimal im Alten Testament vor. Immer geht es um Heimtücke und Habgier. Das ist etwas ganz anderes.

Es ist ganz wichtig, dass es Menschen gibt, die zu einem stehen und einen versuchen aufzufangen.

Ich habe gelernt, dass die wesentlichen Ursachen für eine traumatische Erfahrung bei Soldaten nicht nur das Erleben der eigenen Todesnähe ist, zum Beispiel durch Beschuss. Es kann auch umgekehrt dadurch passieren, dass man töten muss oder getötet hat. Es ist ganz wichtig, dass es dann Menschen gibt, die zu einem stehen und einen versuchen aufzufangen. Was man bestimmt nicht braucht, ist jemand, der mit moralischen Vorhaltungen daher kommt.

Männer im Gespräch
Es braucht Menschen, die zu einem stehen und einen versuchen aufzufangen
Foto: Pixabay

Ich habe im selben Einsatz, 2010, die damalige Ratsvorsitzende M. Käßmann dafür kritisiert, dass sie den Einsatz von Waffen pauschal als unethisch verurteilt hat. Der Gebrauch von Waffen richtet viel Leid an. Auf allen Seiten. Ich habe noch keinen Soldaten erlebt, der mit Lust getötet hat. Oder weil er gedacht hat, dass er damit die Welt rettet. Und Soldaten sind gewiss keine Mörder.

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Ich finde es wichtig, dass Menschen begleitet werden, dass man ihre Konflikte, ihre Not, und auch ihre Rechtfertigungen hört und aushält. Gerade als Christ. „Ich gehe mit dir!“ – Das sollen Soldatinnen und Soldaten von mir erwarten können.

Mit welchen Fragen, Sorgen oder Problemen kommen Soldatinnen und Soldaten zu Ihnen?

Herr Pfarrer Wächter: Es ist die ganze Palette seelischer Fragen. Ich sage immer: Der erste Seelsorger, die erste Seelsorgerin ist dein Kamerad und bestenfalls auch dein Seelsorger. Ich öffne mich nur jemandem, dem ich vertraue, den ich kenne, und dem von dem ich annehme, dass er versteht, wovon ich rede. Der wesentliche Nachteil, den ich als Pfarrer habe, ist der, dass ich fremd bin und dass es immer mehr Vorurteile über die Kirche und die Geistlichen gibt, oder dass man schlichtweg nicht mehr weiß, was ein Pfarrer alles kann. Seelsorge wird mehr und mehr bei den Psychologen verortet. Mein großes Pfund ist aber die Verschwiegenheit.

Ein weiteres Problem, das die Soldaten haben, ist die sogenannte Selbstmächtigkeit. Eigentlich eine wichtige Ressource, zu der sie in der Bundeswehr ausgebildet werden: Der Lösungswille! Damit ist das innere Konzept gemeint, dass ich Probleme selbst lösen kann und will und muss. – Sich Hilfe zu suchen, bedeutet vordergründig ein Eingeständnis von Schwäche. Deswegen wird auch Häme oder Gelächter befürchtet, wenn man zum Pfarrer gehen will. Aber eigentlich ist es ja umgekehrt. Es braucht also die persönliche Begegnung, mit der ich erst Vertrauen aufbauen muss.

Die Familien müssen viel aushalten, wenn Soldaten eine Traumafolgestörung erleiden.

Und dann sind es oft Beziehungsproblem, Fragen wegen der Kinder, Konflikte mit den Eltern, immer wieder auch Konflikte mit Kameraden oder Vorgesetzten oder die Spannung zwischen Dienst und Familie. Und wir haben ein besonderes Feld: Die Begleitung von Soldatenfamilien, die unter Einsatzschädigungen leiden. Die Familien müssen viel aushalten, wenn Soldaten eine Traumafolgestörung erleiden. Und für die Betroffenen ist es erst recht schlimm.

Welchen Stellenwert hat das Gebet in der heutigen Zeit noch bei den meist jungen Menschen? Haben Sie beobachten können, dass sich der Stellenwert ändert, wenn Sie die Soldatinnen und Soldaten im tatsächlichen Einsatz erleben, zum Beispiel während Ihrer seelsorgerischen Tätigkeit in Bosnien-Herzegowina oder in Afghanistan?

Herr Pfarrer Wächter: Ich höre von vielen, dass die Kirche bzw. der Gottesdienst eine wichtige Funktion im Einsatz hat. Es ist für manche ein Stück Heimat, für andere wieder ein Ort, auf andere Gedanken zu kommen, mal raus aus dem Dienst-Trott. Aber ich fürchte, für die größte Zahl der Soldatinnen und Soldaten ist die Kirche etwas Fremdes. Den Traditionsabbruch kann man schon sehr deutlich spüren.

Ich muss stärker als früher mit meiner Person überzeugen und kann mich nicht mehr auf mein Amt verlassen. So versuche ich mehr und mehr, eine Ansatz in den alltäglichen Dingen zu finden und daraus ein Statement aus der biblischen Tradition abzuleiten. Das spannende ist, dass unsere Botschaft oft quer zur Menschenwelt liegt. Zum Beispiel was Vergebung angeht – nicht dessen, was andere getan haben, sondern was man selbst angerichtet hat, oder auch sich selbst antut.

“Ich nutze sehr gerne das Ritual des Kerzenanzündens.”
Foto: Pixabay

Beim Thema Gebet geht es mir so, dass ich da immer wortkarger werde. Ich kann es immer schwerer aushalten, wenn mich einer mit einem Gebet volltextet. Auch bei den Fürbitten lasse ich immer öfter eine Stille, damit jeder sein eigenes Gebet, seine eigenen Gedanken und Wünsche formulieren kann. Und ich nutze sehr gerne das Ritual des Kerzenanzündens. Da wird die Stille oft sehr dicht! In Kunduz habe ich erlebt, dass eigentlich jeden Abend Soldatinnen und Soldaten in den Raum der Stille kamen und eine Kerze angezündet haben, für die Kameraden draußen, oder die Lieben zu Hause. Immer wenn ein gefährlicher Auftrag bevorstand, habe ich das an der Anzahl der ausgebrannten Teelichter ablesen können.

Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? “Gebet ist für mich…”

Herr Pfarrer Wächter: Gebet ist für mich das Ablegen und Loslassen meiner Gefühle, Sorgen und Gedanken vor Gott.

Ich danke für das Gespräch.

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