Sekundenglück

Christiane Quincke

Oma, I’m so happy

„Oma, I’m so happy“, rief der 5-jährige Tom, als er das erste Mal die Ostsee sah und umarmte seine Großmutter Karin.
Er hatte gerade die ersten englischen Wörter gelernt. Einfach so. Niemand wunderte sich, warum er das auf Englisch sagte. Warum auch. Er schien wirklich glücklich und überwältigt zu sein. Egal in welcher Sprache. I’m so happy.

Auch für Karin war das ein Glücksmoment. Oft versteht sie Tom nicht – vielleicht weil sie sich viel zu selten sehen oder weil er Autist ist und sie nicht. Oder beides. Aber in diesem Moment waren sie beieinander. Verstanden sich bis in die kleinste Körperzelle hinein. Das Meer, der Sand, die Möwen, Wind und riesige Wolken. Wie aus dem Bilderbuch. Fast kitschig. Aber es war jetzt da – ganz echt. Ganz richtig. Ganz für sie beide: Oma Karin und Tom. Glücklich. Sekundenglück.

Und du denkst, dein Herz schwappt dir über
Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt
Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente
Das ist, was man Sekundenglück nennt

(Grönemeyer, Sekundenglück)

Was ist Sekundenglück?

Glück – ein großes Wort. Zu groß. Voller Sehnsucht. Und oft verkitscht.
Das Sekundenglück ist aber klein. Oft übersehen.

Nur du kannst es sehen, spüren, fühlen – in dieser Sekunde.
Nur du und vielleicht die andere Person, mit der du es erlebst:
dein Enkel, deine Freundin, dein Mann, deine Patientin, dein Kunde.

Wenn du es erlebst, spürst du es mit jeder Faser deines Körpers. Es ist Leben pur.
Jetzt – in dieser Sekunde. Du kannst es nicht festhalten. Genau das macht es aus.

Das Sekundenglück geht vorbei.

Sekundenglück im Alltag

Es ist das Hüpfen über die Welle am Strand oder die Muschel, die du findest.
Es ist das eine Lied im Radio, das du jetzt brauchst.
Dein Tanz in der Küche. Der erklommene Berggipfel. Der Regenbogen.
Dein schlafendes Kind im Autositz. Oma, I’m so happy.

Es ist der gemeinsame Gesang von Tausenden.
Das erlösende Handballtor. Der eine Videoclip. Die erste Erdbeere im Jahr.
Der Jupiter am Sternenhimmel. Und neben ihm der Mars.
Das Telefonat mit der Jugendfreundin nach vielen Jahren.
Das Grab der Mutter, an dem sich zwei Schwestern endlich wieder umarmen.

Umarmung Zwei Frauen
Sekundenglück

Und du denkst, dein Herz schwappt dir über
Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt
Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente
Das ist, was man Sekundenglück nennt

Grönemeyers Trauer und Musik

Herbert Grönemeyer singt diese Worte seit 2018.
20 Jahre zuvor war seine erste Frau Anna gestorben. Ihr Tod hatte ihn aus der Bahn geworfen.

Ein Jahr lang machte er nichts mehr mit Musik. Kein Konzert. Kein Lied. Kein Text.
Dann fing er langsam wieder an – und fasste seine Trauer in neue Töne.

Zwei seiner bekanntesten Songs entstanden: „Mensch“ und „Der Weg“.
Und bis heute – 27 Jahre später – taucht die Trauer in seinen Songs auf –
und zugleich die wiedergefundene Lebensfreude.

Grönemeyer weiß, wie zerbrechlich Glück ist. Wie vergänglich.
Wie brutal der Tod. Und endgültig.
Er weiß, wie kostbar deshalb jeder kleine Moment ist.

Sekundenglück, das bleibt

Wer Grönemeyer auf Konzerten erlebt hat (wie ich Anfang August in Karlsruhe), weiß, wie ansteckend seine Lebensbegeisterung ist.
Ein Abend mit ihm ist Empowerment pur – mit guter Laune und starker Botschaft.
Die Füße tun danach weh vom Tanzen, die Stimme ist rau vom Mitsingen – aber alle sind glücklich. Sekundenglücklich.

Auch die Bibel kennt Sekundenglück

Die Psalmen der Bibel kennen das nur zu gut.
Sie sind voll davon: von Jubel bis in die Haarspitzen, von tiefster Ergriffenheit und überschwänglicher Freude:

Mein Herz und meine Seele sind fröhlich; auch mein Leib …
Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne

(Psalm 16)

Und du? Jubelst du mit?

Was, wenn das Glück nicht spürbar ist?

Oder fällt es dir heute nicht leicht?

Mich bedrückt die politische Stimmung in unserem Land.
Dieses „Die da oben machen alles falsch“. Und vielleicht stimmt davon vieles sogar.

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Mich bedrückt, dass immer mehr jesidische und iranische Geflüchtete abgeschoben werden, obwohl es in ihrer alten Heimat gefährlich für sie ist.

Ich sehe die Reflexe auf den grausamen Terrorakt in Solingen:
Das Asylrecht wird infrage gestellt, die Menschenwürde versinkt im Mittelmeer.

Ich mache mir Sorgen um meine Kirche:
Schafft sie es, ernsthaft die sexualisierte und spirituelle Gewalt aufzuarbeiten?

Ich mache mir Sorgen um belastete Familien, um Kinder, die Angst vor der Zukunft haben.

So wie Oma Karin:
Wird ihr Enkel Tom eine Schule finden, die zu ihm passt?
Kann er je so leben, dass er sich nicht verbiegen muss?

Das Sekundenglück wachhalten

Karin denkt an all das. Und dennoch ist sie in diesem einen Moment mit Tom glücklich.
Dieses Sekundenglück will sie wach halten.

Muschel

Sie erinnert sich mit der Muschel, die sie mit Tom gefunden hat.
Wenn sie sie in der Hand hält, riecht sie wieder die Ostsee.
Sie hört Möwen, die Wellen – spürt Toms Arm um ihren Hals.
Die Sorgen sind dann noch da – aber sie füllen nicht mehr alles aus.

Und sie weiß: In diesem Sekundenglück mit Tom – da war auch Gott dabei.
Gott ist da. Die Muschel erinnert sie daran.

Gott – sei bei mir!

Aber reicht das, wenn die Sorgen wieder Überhand gewinnen?
Ist Gott dann auch da?

Ich habe den Herrn allezeit vor Augen
(Psalm 16)

Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, du bist bei mir
(Psalm 23)

Die Psalmen kennen nicht nur Jubel, sondern auch Angst und Verzweiflung.
Auch dann lassen sie Gott nicht los:

Du bist bei mir. Du musst bei mir sein. Gott, es ist deine Aufgabe!

Ein Vertrauen, das trägt

Du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen
und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe.

Wow, denke ich. So möchte ich auch mit Gott rechnen.
Im Guten wie im Schlechten.
Das Sekundenglück aus Gottes Hand nehmen – und ihre Nähe spüren, wenn das Glück zerbricht.

Ich will in Gutem und Bösen verbunden bleiben:
Mit Gott. Mit mir. Mit meinen Lieben.

Sekundenglück als Geschenk Gottes

Denn ja, das ist das Leben, das du, Gott, mir schenkst:
Ein Leben voller Glückssekunden – und zugleich endlich, zerbrechlich, begrenzt.
Weil es so begrenzt ist, sind die Glückssekunden umso wichtiger.
Das Sekundenglück trägt auch dann, wenn es nicht mehr da ist.

Weil du, Gott, immer noch da bist.

Und du denkst, dein Herz schwappt dir über
Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt
Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente
Das ist, was man Sekundenglück nennt

Sekundenglück, das trägt – auch im Abschied

Auf YouTube schreibt eine Hörerin:

Wir haben dieses Lied bei der Beerdigung meiner Mutter gespielt.
Eine Frau, die 2018 eine Krebsdiagnose bekam und vier Jahre später daran starb.
Sie war früh Witwe mit vier kleinen Kindern.
Doch sie hat immer versucht, schöne Momente zu haben und das Leben zu genießen.
Ihre letzten Worte waren: ‚Alles ist gut!‘

Ein „I’m so happy“ gegen die Sorgen

Oma, I’m so happy!
Wenn die Sorgen um die junge Familie zu groß werden, erinnert sich Karin an diesen Satz.
An Toms Arme. An den Geruch des Meeres.
Und daran, dass Gott da war – und auch da sein wird, wenn es schwer wird.

Dieses Sekundenglück hilft ihr, nicht aufzugeben.
Hilft, weiter zu helfen.
Hilft mir, zum nächsten „I’m so happy“ beizutragen.

Sekundenglück als Auftrag

Dieses Sekundenglück hilft mir, mich weiter für Menschenwürde einzusetzen.
Für eine glaubwürdige Kirche.
Denn das Sekundenglück ist von Gott getragen – so wie auch das zerbrochene Glück.

Ja, du bist da, Gott. Immer.
Auch jetzt.
In diesem zerbrechlichen, endlichen Leben voller Sekundenglücksmomente.

Amen.

Text mit freundlicher Genehmigung von Pfarrerin Christiane Quincke / Freie Worte

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