Dr. Joachim Nicolay ist Diplompsychologe und Diplomtheologe. Er ist Vorsitzender des Vereins Netzwerk-Nahtoderfahrung und befasst sich seit Jahren mit Bewusstseinsphänomenen in Todesnähe. Er ist außerdem Autor fachwissenschaftlicher Beiträge, die ebenfalls dieses Thema zum Inhalt haben. Ich freue mich, dass Herr Nicolay sich die Zeit genommen hat, meine Fragen zum Thema Nahtoderfahrungen und Gebet zu beantworten.
Herr Dr. Nicolay, was sind die Hauptziele und Aufgaben des Vereins „Netzwerk-Nahtoderfahrung“?
Dr. Joachim Nicolay: Der Verein „Netzwerk-Nahtoderfahrung“ wurde 2004 von dem emeritierten Mathematiker und Physiker Prof. Günter Ewald zusammen mit der Physiotherapeutin Sabine Mehne (verstorben am 30.11.2022) und dem Bundeswehroffizier Alois Serwaty gegründet. Der Verein hat heute 300 Mitglieder. Dazu gehören auch Professoren und Professorinnen aus den Bereichen der Medizin, der Physik, der Theologie, der Psychologie, der Philosophie und der Betriebswirtschaft.
Unsere Ziele:
- Wir wollen eine verlässliche Informationsquelle auf einer wissenschaftlich fundierten Basis sein.
- Wir wollen Impulse für die öffentliche Diskussion geben.
- Wir wollen Menschen mit diesen Erfahrungen und Interessierten ein Forum für den Austausch untereinander geben.
Einige unserer Aktivitäten:
- Ein- oder zweimal im Jahr führen wir Tagungen durch. Sie stehen allen Interessierten offen. Als Referentinnen und Referenten laden wir sowohl anerkannte Fachleute als auch Menschen mit Nahtoderfahrungen oder anderen spirituellen Erfahrungen ein.
- Aus den Tagungen des Netzwerk-Nahtoderfahrung sind viele Bücher hervorgegangen. Die Bücher sind zunächst im Santiago Verlag erschienen. Nach dessen Schließung erscheinen sie im Crotona Verlag. Sie werden von dem stellvertretenden Vorsitzenden, dem Neurologen Prof. Dr. Dr. Wilfried Kuhn, und mir herausgegeben.
- Zu den Veranstaltungen des Netzwerk Nahtoderfahrung und den zahlreichen Vorträgen, die bundesweit von Vereinsmitgliedern gehalten werden, kommen in den letzten Jahren Internet-Videos, die vielfach aufgerufen werden. Auf dem YouTube-Kanal Thanatos TV von Werner Huemer ist ein Video mit unserem im letzten Jahr verstorbenen Mitglied Astrid Dauster zu sehen. Es kam auf 1,1 Millionen Aufrufe. Das Interview mit dem stellvertretenden Vorsitzenden Prof. Wilfried Kuhn Leben nach dem Tod: Was sagt ein Neurologe? kam auf fast 460.000 Aufrufe. An der Serie Sterbeforschung aktuell auf Thanatos TV wirken seit 2022 Prof. Dr. Dr. Wilfried Kuhn, Dr. Joachim Nicolay und Prof. Dr. Enno Edzard Popkes mit.
- Zu den Angeboten für die Mitglieder des Vereins zählt die Zeitschrift NTE-Report, die dreimal im Jahr erscheint. Dort führen wir Berichte über Nahtoderfahrungen, Nachtod-Kontakte oder mystische Erfahrungen an. Wir besprechen neue Studien und stellen Literatur und Veranstaltungen vor. Ein Austausch der Mitglieder untereinander ist bei dem viermal jährlich stattfindenden Internet-Stammtisch möglich, den unser Mitglied Sigrun von Hasseln-Grindel organisiert und leitet.
- Auf unserer Webseite Netzwerk Nahtoderfahrung. org berichten wir über Neuigkeiten im Bereich der Nahtodforschung. Wir stellen Erlebnisschilderungen vor und informieren über Bücher und Veranstaltungen.
Transzendenz statt Todesnähe: Was Nahtoderfahrungen wirklich sind
Lassen Sie mich bitte zunächst eine Frage zu Nahtoderfahrungen im Allgemeinen stellen: Gibt es typische Muster oder Gemeinsamkeiten in den Berichten von Menschen, die eine Nahtoderfahrung hatten?
Dr. Joachim Nicolay: Als erstes möchte ich darauf hinweisen, dass der Begriff „Nahtoderfahrung“ irreführend und eine Quelle von Missverständnissen ist. Wenn man „Nahtoderfahrung“ hört, denkt man, es handle sich um Erlebnisse, die in Todesnähe auftreten. Zwar treten die Erlebnisse in der Tat häufig in lebensbedrohlichen Situationen auf, aber die gleichen Erlebnisse können auch in vielen anderen Situationen auftreten, zum Beispiel im Schlaf, bei einer Meditation, in einer persönlichen Krise, bei Misshandlung oder sexuellem Missbrauch und sogar unvermittelt im Alltag. Das sind nur Auslöser.
Was die Erlebnisse auszeichnet, ist ihr Inhalt. Die betroffenen Menschen sprechen über Erfahrungen der Außerkörperlichkeit, den Übergang in eine jenseitige Welt, Begegnungen mit Verstorbenen, den Aufenthalt in paradiesischen Regionen und die Begegnung mit einem geheimnisvollen, göttlichen Licht. Die sogenannten „Nahtoderfahrungen“ sind Transzendenzerfahrungen. Sie werden als Begegnungen mit einer jenseitigen, manchmal auch göttlichen Wirklichkeit erlebt.
Spirituelle Impulse: Was Nahtoderfahrungen und Gebet bedeuten
Im Rahmen der Vorbereitung dieses Interviews äußerten Sie, dass manche Nahtoderfahrene berichten, dass sie aus der Nahtoderfahrung geistige Impulse zum Beten erhalten haben. Können Sie dies bitte an Hand von Beispielen näher erläutern?
Dr. Joachim Nicolay: Ich nenne mehrere Aspekte.
Kommunikation mit Gott
Azmina Suleman, einer muslimischen Frau, wurde in ihrer Nahtoderfahrung die „Macht des Gebetes“ bewusst. Das Gebet, schreibt sie in ihrem Buch „A Passage to Eternity: A Mystical Account of a Near-Death Experience and Poetic Journey Into the Afterlife (English Edition)„, sei ein Mittel, durch das eine individuelle Seele mit ihrem Schöpfer kommuniziere. Es ist in der menschlichen Seele verankert. Sie habe sich an Stephen Spielbergs Film E.T. – Der Außerirdische erinnert gefühlt, dem außerirdischen Wesen, das das angeborene Bedürfnis hat, zuhause anzurufen und mit seinem Mutterschiff Kontakt aufzunehmen.
Manche Menschen glauben, dass beim Beten die Religionszugehörigkeit eine Rolle spielt. Suleman schreibt jedoch, sie habe erkannt, dass Gott alle Gebete gleichermaßen wichtig seien. Er mache keinen Unterschied zwischen den Gebeten von Muslimen, Hindus, Christen, Juden oder Angehörigen anderer Bekenntnisse. „Er hört sie alle gleichermaßen.“ Es gibt auch kein Richtig oder Falsch beim Beten. „Jedes Gebet, das mit Ernst, Demut und einem liebenden Herzen gesprochen wird, hat die gleiche Kraft und die gleiche Wirkung wie jedes andere Gebet, egal in welcher Sprache und Art es gesprochen wird.“
Suleman äußert sich auch zu den Wirkungen des Betens. Es verbessere die Bedingungen in unserer Seele, die es dem göttlichen Licht erlaubten, in unsere Herzen zu gelangen. Es rufe nicht nur Gottes Gnade und Unterstützung in unser Leben, sondern helfe uns auch, dieser Quelle näher zu kommen. Auch „Wunder“ – Dinge, die wir nicht mit Wissenschaft oder rationalem Denken wegerklärten könnten – seien oft das direkte Resultat eines solchen Eingreifens und der sichtbare Beweis, dass die Hand Gottes eine Rolle in unserem Leben spiele.
Sie schreibt, sie habe während ihrer Nahtoderfahrung noch eine weitere bemerkenswerte Entdeckung gemacht. Sie habe (auf einer symbolischen Ebene) gesehen, was geschah, wenn mehrere Menschen gemeinsam beteten. Das Licht in den Herzen derer, die anwesend waren, schien sich aufzuladen und heller zu werden. Die vereinte Kraft und Strahlung ihrer Lichter schien das Licht in den schwächeren Lichtern zu entfachen und zu verstärken. Das Ergebnis sei ein kraftvolles Auflodern von Licht gewesen.
Zu wem betet man?
Nahtoderfahrene sprechen davon, dass es wichtig sei, eine Vorstellung von dem Wesen zu haben, an das man sich im Gebet wendet. So schreibt Joyce Brown in ihrem Buch „God’s Heavenly Answers: Near-Death Experience Revealed„, dass ihr im Zusammenhang mit einer Nahtoderfahrung das Wissen vermittelt wurde, dass es wichtig sei, regelmäßig zu beten und dass man sich Gott als Person vorstellen solle. „Es gab Zeiten, wo ich betete und mein Geist abschweifte, weil ich keine klare Vorstellung und kein geistiges Bild von Gott hatte. Ich war begeistert, als ich erfuhr, dass er wirklich ein Wesen ist, das Gefühle hat, und dass er mich liebt. Das war nicht so eine Art Wolke, zu der ich sprach, wenn ich betete. Ich erkannte, dass er … viel verständnisvoller und liebevoller ist als irgendeine andere Person, die man sich vorstellen kann.“
Man soll sich Gott also als Person vorstellen. Das heißt nicht, dass sich Gott auf die Vorstellung einer Person nach menschlichem Vorbild reduzieren ließe. Das Bild von Gott als einer Person kann aber helfen, Kontakt zu ihm aufzunehmen, damit man nicht ins Leere hinein betet. Beten wird zum Beziehungsgeschehen. Das Gebet, so könnte man sagen, fängt schon an, bevor man mit Gott „spricht“. Sich die Nähe Gottes vorstellen, Kontakt zu Gott aufzunehmen, ist bereits selber eine Art des Betens.
Manche Menschen können mit dem Wort „Gott“ nichts anfangen. Sie würden es vielleicht vorziehen, sich beim Beten an die „Quelle“, an die universelle Schöpferkraft, die „höhere Weisheit“, oder einen Erzengel zu wenden. In dieser Hinsicht könnte ein Hinweis hilfreich sein, der sich in Astrid Dausters Buch „Opferkind“ findet. Ihr wird gesagt: „Kein Mensch weiß, wie Gott aussieht, und er ist immer der, den du rufst. Er hat immer alle Namen, die du ihm gibst.“
Ich verstehe das so, dass es auf den Namen, den man dem „höchsten Wesen“ gibt, letztlich nicht ankommt. Bei Astrid Dauster heißt es: „Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung, sein eigenes Bild von ihm. Er gibt Gott eine Gestalt, zu der er beten kann und zu der er Vertrauen hat. Deshalb hat Gott kein eigenes Aussehen, sondern ist immer der, den du rufst, und hat alle Namen, die du ihm gibst. Er ist überall, wo man ihn ruft, an Millionen Orten gleichzeitig.“
Wie soll man beten?
Für viele Menschen ist Beten wahrscheinlich gleichbedeutend mit Bitten. Man bittet Gott zum Beispiel um Hilfe für sich oder für Personen, die einem nahestehen. Viele sind sich nicht darüber im Klaren, dass man zu Gott auch eine persönliche Beziehung aufnehmen kann. Durch ein persönliches Beten ändern sich die Erfahrungen, die man mit dem Beten macht.
Bewährt hat sich eine Form, die im Englischen als „colloquial prayer“ bezeichnet wird. Es gleicht einem familiären, vertrauten Umgang mit Gott. Eine deutsche Studie zeigt, dass vor allem bei jungen Menschen eine Tendenz beim Beten in diese Richtung weist. In Nahtoderfahrungen finden sich Impulse, die ebenfalls in diese Richtung gehen.
Als der Amerikaner Howard Storm in seiner Nahtoderfahrung danach fragte, wie er beten solle, wurde er zur Offenheit ermuntert: „Erzähle Gott, was du getan hast, die guten und die schlechten Dinge. Sei vollkommen ehrlich mit Gott. Man kann Gott nicht überraschen. Gott möchte es von dir hören.“ Gott wird zu einem Gesprächspartner, dem man alles erzählen kann, auch Dinge, derentwegen man sich schämt. Die gewünschte Offenheit zielt nicht darauf, der Person ins Gewissen zu reden. „Vertraue Gott!“ wird ihm gesagt. „Gott liebt dich gerade so, wie du bist.“
Das erzählende Beten steht in einer alten Tradition. Teresa von Avila sprach vom inneren Gebet. Sie verglich es mit einem Gespräch. „Denn das innerliche Gebet ist meiner Ansicht nichts anderes als ein Gespräch mit einem Freund, mit dem wir oft und gerne allein zusammenkommen, um mit ihm zu reden, weil wir sicher sind, dass er uns liebt.“ Wenn man Gott in dieser Weise sein Leben berichtet, bleibt man bei seinen Fragen, seinen Sorgen, seiner Suche nach Antwort. Man schildert, wie es einem geht.
Friederike Seifert, eine damals 16-jährige, schrieb in der Zeitschrift Chrismon (11/2005): „Beten nenne ich das nicht, ich nenne das erzählen. Kurz vorm Einschlafen lass ich noch mal meine Gedanken schweifen. Ich lasse jemanden teilhaben an meinem Leben. Es ist ähnlich wie Tagebuchschreiben. Aber da ist jemand, dem ich es erzähle, also Gott. Ich erzähl es ihm wie einer anderen Person.“
Ein Nahtoderfahrener beschrieb mir, was diese Art zu beten bei ihm auslöste. Er sagte: „Ich habe oft im stillen Kämmerlein gebetet und habe mir alles, was mir weh tat, von der Seele runter geredet. Ich habe immer das Gefühl gehabt, man hat mich erhört und mir bestimmte Zeichen gegeben, wo es lang geht.“ Er meinte, dass er dadurch, dass im Gebet „alles raus kam“ vielleicht auch klarere Gedanken fassen konnte.
Sich leiten lassen
Der erwähnte Nahtoderfahrene meint festgestellt zu haben, dass ihm bei dieser Art des Betens „bestimmte Zeichen“ gegeben wurden, „wo es lang geht“. Er glaubt also, dass auf sein Gebet eine Antwort erfolgte. Für manche scheint das Beten zu einer echten Kommunikation zu werden. Das gelingt offenbar umso besser, je mehr das Sprechen mit Gott durch ein Zuhören und Hinhören ergänzt wird. Joyce Brown wurde in ihrer Nahtoderfahrung darauf hingewiesen, dass man während des Betens Pausen einlegen solle, um vielleicht zu guten Ideen angeregt zu werden.
Nahtoderfahrene beschreiben einen Wechsel von Sprechen und Hinhören. Gebet und Meditation werden dabei nicht als Gegensätze betrachtet, sie ergänzen sich vielmehr. Ein Betroffener sagt: „Heute finde ich, dass mein ganzes Leben ein ständiges Gebet oder Gespräch mit Gott ist. Ich spreche einfach mit Gott, denn er ist immer gegenwärtig. Wenn ich etwas wissen möchte, setze ich mich einfach hin und stelle mich innerlich ein und frage, was ich tun soll… Ich meditiere auch. Für mich kann beides nicht getrennt werden; denn ich denke, wenn ich bete, spreche ich zu Gott, auf der Ebene, wie man einem Freund nahe ist – und wenn ich meditiere, ist das für mich wie ein stilles Hinhören. Ich setze mich einfach an einen stillen Platz und lausche.“
Wenn man in dieser Weise betet, kann man sich von der höheren Weisheit / von Gott leiten lassen. Als Voraussetzung für die Erfahrung einer inneren Führung nennt die nahtoderfahrene Ulrike Griesing, dass man „den aktiven Macher“ in sich verabschieden müsse. Sie spricht damit an, dass man das Bedürfnis aufgeben muss, in jeder Hinsicht Kontrolle über sein Leben auszuüben. Wer krampfhaft versucht, die Kontrolle zu behalten, ist für innere Leitung nicht offen.
Pamela Kircher, eine Hospizärztin, die als Kind eine Nahtoderfahrung hatte, schreibt, sie beginne ihre Tage mit einer Meditation, um sich auf die anstehenden Aktivitäten des Tages zu zentrieren und in Einklang zu kommen mit „der göttlichen Führung“. Auch das Gebet nutzt sie für die Suche nach innerer Leitung. Es habe sich für sie bewährt, abends darum zu bitten, eine Lösung zu einem Problem zu finden, das sie beschäftige, oder zumindest die Richtung zu finden, in die sie gehen könne. Sie finde es sehr hilfreich, vor dem Schlafengehen ein solches „intentionales Gebet“ zu sprechen bezüglich jedes Problems, das sie im Moment beschäftige. Dies halte ihr Unbewusstes offen für göttliche Führung.
Damit macht sie deutlich, dass sich das Hinhören nicht auf die Zeit des Betens selbst beschränken sollte. Es geht darum, generell hellhöriger zu werden für Impulse, die man im Gebet und der Meditation, aber auch von außen –von anderen Menschen, aus der heiligen Schrift, aus anderen Büchern – empfangen kann. Wenn wir sensibel dafür sind, werden wir die Impulse erkennen, die für uns wichtig sind und die uns weiterbringen. Die Frage, meint Howard Storm, sei nicht, ob Gott zu uns rede, sondern ob wir zuhörten.
Wenn man es lernt, sich „leiten zu lassen“, wird das Leben vereinfacht. Man spart sich Grübeleien und unnötige Ängste. In den Interviews, die die Autorin Cherie Sutherland mit Nahtoderfahrenen führte, sagte jemand: „Ja, ich werde geleitet. Wenn ich es fließen lasse, tue ich das richtige, solange ich nicht Widerstand leiste, meinen Kopf, der sehr stark ist, nicht in den Weg stelle. Wenn ich einfach mit dieser Leitung mitgehe, geschehen gute Dinge.“
Das „Gebet“ auf der Ebene der Einheitserfahrung
Menschen, die in ihrem spirituellen Erlebnis eins waren mit dem Licht/mit Gott, sagen manchmal, sie könnten nicht mehr beten. Sie haben keine personale Vorstellung mehr von Gott. Sie fühlen sich so sehr verbunden, dass Gott für sie kein Gegenüber mehr ist. Hier Auszüge aus einem Gespräch, das ich mit Frau W. geführt habe. Sie sagte zu mir:
„Ich sehe Gott nicht mehr als Person. Ich sehe mehr das Ganze, eine Allmacht, ohne sie zu personifizieren, ein Wesen, für das man kein Bild hat, oder ein Strömen oder ….“
Ich fragte Frau W.: Kann man denn dazu „Gebet“ sagen, oder ist das nicht mehr möglich?
Es ist mehr ein Zulassen oder ein Hinhören, ein Betroffensein. Man kann das Betroffensein ausdrücken – zum Beispiel in einem Dankgebet –, aber das Betroffensein selbst ist ja schon das Gebet.
-Dass man den Dank empfindet?
Genau, das ist das Gebet! Wenn ich auf dem Balkon sitze und die Blumen anschaue … das ist das Gebet.Ich bin dann so berührt von dieser Unendlichkeit oder von diesem Wesen, das in allem ist. Wenn ich sonntags mittags auf der Terrasse sitze und es ist schönes Wetter und ganz still, dann fühle ich mich fast eins mit dieser Blume oder Pflanze. Ich bin dann wie eingebunden. Ich bin in mir drinnen. Ich bin nicht so verströmt.
-Aber dennoch fühlen sie sich nicht isoliert?
Im Gegenteil. Ich fühle mich ganz stark verbunden. Wenn ein Mensch dazu käme und es würde passen, d.h. er würde nicht durch irgendetwas stören, und wir würden beide da sitzen, dann würde ich mit ihm auch die Verbundenheit spüren. Und das ist schön. So eine Seligkeit, Glück. Ich empfinde es als Gegenwärtigsein. Wenn ich ganz bei mir bin, belastet mich die Vergangenheit nicht und an die Zukunft denke ich auch nicht. Ich bin dann ganz gegenwärtig. Das ist wie eine Tankstelle. Man wird gefüllt. Es erfüllt einen. Das sehe ich heute als Gebet: die Zeit, die ich in der Verbundenheit mit der Umgebung oder dem Kosmos verbringe, die Zeit, die ich in diesem Zustand bin. Das ist ein Zulassen von etwas, was immer ist, was mir aber nicht immer präsent ist.“
Über die Rolle, die das Gebet in Nahtoderfahrungen spielt, habe ich einen Aufsatz geschrieben, der in unserem Buch „Nahtod-Erfahrungen und Spiritualität – Ein Leben in Verbundenheit“ enthalten ist. In dem Buch sind weitere Beiträge zur Spiritualität der Nahtoderfahrungen. Darunter ist auch ein Artikel von Michèle Bögli-Mastria, in dem sie schildert, wie sie gelernt hat, eine Haltung der Dankbarkeit zu entwickeln. In einem weiteren Beitrag des Buches schreibe ich über die „Ethik des Herzens – Die Botschaft Jesu aus der Perspektive der Nahtod-Erfahrungen“.
Was bleibt? Hinweise auf ein Weiterleben nach dem Tod
Frage: Ich befasse mich selbst schon seit vielen Jahren mit dem Thema Nahtoderfahrungen, weil mich die Berichte nicht zuletzt auch in meinem Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod bestärken. Trotzdem bleibt natürlich ein Haken: Die Menschen, die von Ihren Erlebnissen berichten, waren ihrem eigenen Tod „nur“ sehr nahe, aber sie waren nicht wirklich tot. Ist das nicht auch für Sie ein Dilemma, das letztlich immer bleiben wird?
Dr. Joachim Nicolay: Nein. Siehe oben meine Ausführungen zum Begriff „Nahtoderfahrung“. Um ein Jenseitserlebnis zu haben, muss man sich nicht in Todesnähe befinden. Die Menschen behaupten in der Regel auch gar nicht, dass sie „tot“ gewesen seien. Sie sagen aber, dass sie einen Eindruck, gewissermaßen einen „Vorgeschmack“ von der Vollkommenheit, der Geborgenheit, dem Frieden und der Liebe bekommen haben, die die „andere Welt“ kennzeichnen.
Ich möchte aber etwas hinzufügen: Wer glaubwürdige Zeugnisse des Weiterlebens nach dem Tod haben möchte, sollte sich auch mit den sogenannten „Nachtodkontakten“ beschäftigen. Es gibt den Satz: „Von drüben ist noch niemand zurückgekehrt“. Millionen Menschen in Deutschland, die einen Nachtodkontakt hatten – darunter sind laut Studien ca. 50% der Witwer und Witwen –, haben das ganz anders erlebt. In unserem Buch „Nahtoderfahrungen und Nachtodkontakte – Beweise für ein Weiterleben“, das 2024 im Crotona Verlag erschienen ist, habe ich einen Beitrag zu diesem Thema geschrieben. Er trägt den Titel „Nachtodkontakte im Traum“.
Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? „Gebet ist für mich …”
Dr. Joachim Nicolay: Gebet ist für mich ein energetisches Geschehen. Etwas passiert auf der Ebene der Beziehungen zu Gott, den Menschen, der Natur. Beten kann mich öffnen und verbinden. Es kann befreien von den Sorgen, von der Fixierung auf Probleme, von der einseitigen Wahrnehmung dessen, was fehlt. Es öffnet den Blick auf das Wertvolle, das in den kleinen Dingen des Alltags liegt. Ich werde dankbar, wenn ich mir bewusst werde, dass alles eine Gabe und nichts selbstverständlich ist.
Ich habe nicht ein solches Einheitsbewusstsein, wie es Frau W. in ihrem Bericht beschreibt. Aber wenn ich im Sommer auf einer Bank sitze und die Gräser und Kräuter betrachte, die dort wachsen, ahne ich etwas davon, was Frau W. schildert. Ich staune über die filigranen Strukturen der Blätter und Stiele, die jedem Wind widerstehen. All diese vielfältigen Lebensformen versuchen, genauso wie wir Menschen, das Potenzial, das in ihnen angelegt ist, zu verwirklichen. Sie alle streben dem Licht entgegen.
Ich danke für das Gespräch.
Ergänzend zu diesem Thema möchte ich an dieser Stelle auch auf meine folgenden Interviews hinweisen:
Werner Huemer (YouTube-Kanal „Thanatos TV“): Das Bewusstsein überdauert den körperlichen Tod
Prof. Dr. Walter van Laack: Unser Tod ist nicht unser Ende
Franz Dschulnigg (YouTube-Kanal „Empirische Jenseitsforschung“): Es gibt ein Leben nach dem Tod
Prof. Enno Edzard Popkes: Ist das Jenseits unsere eigentliche Heimat?








