Gebet ist Eintauchen bei Gott

Carola Engel

Frau Carola Engel ist seelsorgerische Begleiterin im Franziskus-Hospiz Hochdahl in Erkrath. Das Hospiz begleitet Menschen mit einer fortschreitenden, nicht heilbaren Erkrankung mit begrenzter Lebenszeit, die eine hospizlich-palliative Begleitung wünschen. Ich freue mich, dass ich Frau Engel die folgenden Fragen stellen durfte.

Frau Engel, Sie begleiten Menschen spirituell während ihrer letzten, schwierigsten Lebensphase. Wie sieht diese Begleitung in der Praxis aus?

Frau Engel: Die seelsorgerliche/spirituelle Begleitung richtet sich sowohl an die Hospizgäste als auch an die An- und Zugehörigen.

Die Menschen kommen in einer krisenhaften Situation des Lebens in das stationäre Hospiz. Die vorausgegangene Krankheitserfahrung und die Nachricht der Begrenztheit des eigenen Lebens werfen für sie viele Fragen auf. Es fällt den meisten Menschen nicht leicht, das eigene Leben und die eigenen Bedürfnisse in fremde Hände zu geben. Dazu kommt der Abschied vom eigenen Zuhause. Sorgen, Ängste und Traurigkeit lasten auf der Seele.

Die seelsorgerliche Begleitung steht allen Menschen offen unabhängig von ihrer Weltanschauung oder Konfession. Seelsorge umfasst stützende Gespräche, spirituelle Lebensbegleitung sowie das Angebot von gemeinsamem Gebet und Segen, von Ritualen und/oder Segensfeiern und die gemeinsame Suche nach Ressourcen und Hoffnungszeichen. Außerdem können – in Zusammenarbeit mit den örtlichen Kirchengemeinden-Seelsorgern – Sakramente empfangen werden.

Bachlauf
Wo gehe ich hin?
Foto: Achim Beiermann

Seelsorge bedeutet aber auch:

  • Da- sein, Da- bleiben, Schweigen, Zuhören, Beten;
  • Fragen, Anklagen, Wut aushalten;
  • Gemeinsam den Sinnfragen nachgehen:
    • Wo gehe ich hin? Was bleibt von mir?
    • Warum lässt Gott das zu? Was habe ich getan?
  • Trauer über das nicht gelebte Leben;
  • Umgang mit Schuld.

Sterbeforscher haben bei Sterbenden fünf Phasen des psychischen Erlebens ausgemacht: Das Nicht-Wahrhaben-Wollen, die Phasen des Zorns und des Verhandelns, die in eine Depression münden können, und schließlich die Akzeptanz, bei der der Betroffene sein unausweichliches Schicksal angenommen hat. Konnten Sie beobachten, ob und wie sich in diesen Phasen die Einstellung zum Gebet verändert?

Carola Engel: In der ersten Zeit nach der Diagnose „unheilbar/ lebensbegrenzt erkrankt“, in der Phase der Verleugnung und Verdrängung, tritt bei vielen Menschen das Gebet eher in den Hintergrund. Zu groß ist der Schock, der Boden unter ihren Füßen, der sich auftut. Die Seele ist zutiefst erschüttert, wie erstarrt.

In der Zeit des Zorns („Warum ich?“, „Wo ist Gott?“) stehen eher Anklage und manchmal auch Sarkasmus Gott gegenüber im Raum. Oft sind das verzweifelte und wütende Worte.

In der Phase des Verhandelns mit Gott oder dem Schicksal wächst auch die Offenheit für seelsorgerlich/spirituelle Themen und die Annahme eines Gebetsangebotes bzw. der Wunsch, selber ein Gebet zu sprechen oder ein vertrautes, gemeinsames Vaterunser zu beten.

Wenn der sterbende Mensch seine Situation annehmen kann, werden Segenstexte und Bibelverse, die Hoffnung vermitteln, als hilfreich und tröstend empfunden. Manchmal sind es auch vertraute Lieder, die Frieden und Zuversicht schenken.

Wie gehen Sie persönlich damit um, dass Sie mehr oder weniger täglich mit dem Tod konfrontiert werden? Wie gelingt Ihnen das Abschalten?

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Carola Engel: Meine Aufgabe in der Begegnung und Begleitung der Hospizgäste und der Angehörigen sowie der trauernden Menschen ist für mich eine wichtige und zutiefst erfüllende Aufgabe. Die Aufgabe gibt vielund sie kostet viel.

Oft verlasse ich als Beschenkte das Zimmer eines Hospizgastes.

Sie gibt

  • das Vertrauen, das mir die Menschen aller Altersgruppen entgegenbringen;
  • Anteil an zutiefst persönlichen Geschichten und Lebenserfahrungen;
  • Begegnung von Mensch zu Mensch auf Augenhöhe. Wenn das gelingt, ist das etwas Wunderbares.

Oft verlasse ich als Beschenkte das Zimmer eines Hospizgastes oder ich darf mich mitfreuen, wenn trauernde Menschen ermutigt und gestärkt den nächsten Schritt auf dem Weg durch die Trauer wagen.

Und ja, es kostet auch Kraft:

  • das Erleben von Verzweiflung und Trauer, das Spüren von Ängsten und Bitterkeit;
  • die Berichte von Versagen und Unfrieden, Unversöhnlichkeit und Hass;
  • die Sehnsucht nach nicht Erreichbarem und das Aushalten der vielen offenen Fragen.

Ich kann nur das geben, was ich selber habe – an Zuversicht, Hoffnung, Liebe und Glauben. Und so versuche ich, meinen inneren Brunnen immer wieder neu zu füllen und von Gott füllen zu lassen.

See
Was bleibt von mir?
Foto: Achim Beiermann

Persönliche Auszeiten sind wichtig:

  • Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden;
  • Zeiten der Stille allein und auch vor Gott;
  • kleine Oasen im Alltag sind für mich z.B. spontane Treffen mit einer Freundin zum Kaffee, ein Wochenendtrip oder auch ein fröhlicher Nachmittag mit dem Patenkind;
  • Spaziergänge, Natur und Reisen.

Manchmal hilft mir auch der räumliche Abstand zwischen Wohn- und Arbeitsort, um inneren Abstand zu bekommen. Ergänzend sind der Austausch mit Kolleginnen im Team und auch Supervision eine wertvolle Unterstützung.

Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod machen manche Menschen sogenannte Nahtoderfahrungen. Dazu gehören beispielsweise der Gang durch einen langen Tunnel, der auf ein warmes, helles Licht zusteuert, eine Lebensrückschau, der Eindruck, über dem eigenen Körper zu schweben. Ist Ihnen in Ihrer Tätigkeit von solchen Erfahrungen berichtet worden?

Carola Engel: Im Hospiz sind mir in den letzten zehn Jahren nur einige wenige Menschen begegnet, die solche Erfahrungen gemacht haben, und die darüber sprechen (möchten). Oft sprechen sie nicht über das Erlebte aus Sorge, nicht ernst genommen zu werden, oder um das für sie zutiefst persönliche und einschneidende Erlebnis nicht zu „zerreden“.

Diesen Menschen gemeinsam war, dass sich die Prioritäten ihres Lebens nach diesem Ereignis verschoben haben. Sie hatten keine Angst mehr vor dem Tod – vor dem Erleben des Sterbeprozesses hingegen schon.

Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? “Gebet ist für mich…”

Carola Engel: Gebet ist für mich ein Geschenk, manchmal Zufluchts- und Ruheort, häufig Hoffnungsort und Kraftquelle. Das Gebet ist auch eine mächtige Waffe – und gleichzeitig Frieden für die Seele. Nicht zuletzt ist Gebet für mich Eintauchen und Einatmen bei Gott, um dann wieder aufzutauchen bei den Menschen.

Ich danke für das Gespräch.

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