
Gebet um Heilung
Beten hilft. Das haben unzählige Menschen schon erfahren. Aber macht Beten auch Todkranke wieder gesund? Das leider nicht. In christlich-fundamentalistischen Kreisen wird zwar regelmäßig von Wunderheilungen durch Beten berichtet. Ich war selbst einmal bei einem Gottesdienst, bei dem der angereiste Pastor behauptete, einem Blinden ohne Augen durch sein Gebet wieder zum Sehen verholfen zu haben. Solche Berichte sind aber samt und sonders Fake-News. Das ist frommer Betrug. So etwas sollte man nicht verbreiten und auch nicht glauben.
Wenn in der Bibel davon die Rede ist, dass der Glaube Berge versetzt, dann ist das metaphorisch zu verstehen und nicht wörtlich. Das ist poetische Sprache und zu der gehören auch Übertreibungen. Halten wir also gleich zu Anfang fest: Beten hilft, aber Beten setzt nicht die Regeln der Wirklichkeit außer Kraft.
Was aber hilft dann Beten, wenn jemand krank ist? Für die oder den Kranken ist das Gebet der anderen erst einmal eine Form der Anteilnahme. Sie erfahren: Ich bin nicht allein. Andere sind für mich da und begleiten mich. Es tröstet zu wissen, dass andere für einen Beten. Und wer krank ist, hat Trost nötig.
Was aber hilft Beten ganz allgemein und für denjenigen, der betet? – Nun, das Beten ist zunächst einmal eine große Konzentrationsleistung. Ich besinne mich auf mich selbst, wie es mir geht, was mir wichtig ist oder Sorgen macht oder worauf ich hoffe. Beten hilft, indem es mich aus der Zerstreuung führt oder aus der Verwirrung in die Klarheit bewusster Gedanken über mich und meine Situation. Das ist schon ziemlich viel, denn wenn mir meine Situation klarer wird, kann ich besser sehen, was möglich ist und was nicht, was zu tun oder auch was zu lassen ist, was jetzt wichtig ist oder was nur wichtig scheint und mich vom Wesentlichen ablenkt. Beten führt mich zur Besinnung und das kann sehr hilfreich sein.
Das Gebet wendet sich an Gott, das ist entscheidend. Ich erzähle nicht mir selbst etwas, ich richte mich aus auf das große Du, dem wir unser Leben verdanken. Vor Gott muss ich mich nicht verstecken, vor Gott muss ich keine Rolle spielen. Wie befreiend ist das! Denn auch vor mir selbst spiele ich ja oft eine Rolle, ich will vor mir gut dastehen, vor mir selbst bestehen.
Wie oft spielt man sich selbst was vor – und gerade das muss man beim Beten nicht. Gott kennt mich besser als ich mich selbst kenne. Ich kann auf Rollenspiele verzichten. Vor Gott sehe ich mich deutlicher als in jedem Spiegel. In Gott kann ich mich fallen lassen. Er fängt mich auf und ich finde neuen Halt.
Beim Beten lerne ich auch meine Gefühle besser kennen. Unverstellt kann ich wahrnehmen, was mich umtreibt an Schmerz und Verzweiflung, an Sorge und Kummer, aber auch an Freude und Glück, an Sehnen und Hoffen. Das Beten ist geradezu eine Schule der Gefühle. Beten hilft also.
Ich bringe meine Emotionen zu einem klaren Ausdruck. Die Gefühle bleiben nicht diffus, sondern werden benennbar und mitteilbar.
Beten als Biographiegenerator
Beten ist ein Biographiegenerator erster Ordnung. Im Beten gewinnt unser Dasein die Form einer Lebensgeschichte. Ich erzähle Gott und mir selbst mein Leben. Die erste große Autobiographie eines Menschen ist in der Form des Gebets geschrieben. Der Kirchenvater Augustin hat sie Anfang des 5. Jahrhunderts nach Christus verfasst. Ihr Titel: Confessiones – Bekenntnisse.
Augustin beginnt sein Buch so: „Groß bist du, o Herr, und deines Lobes ist kein Ende; groß ist die Fülle deiner Kraft, und deine Weisheit ist unermesslich. Und loben will dich der Mensch, ein so geringer Teil deiner Schöpfung; […] Du schaffest, dass er mit Freuden dich preise, denn zu deinem Eigentum erschufst du uns, und ruhelos ist unser Herz, bis es ruhet in dir.“ (1. Buch, 1. Kapitel, Übersetzung Lachmann, Projekt Gutenberg)
Auf Gott hin, so bekennt Augustin, ist der Mensch geschaffen. Erst in der Begegnung mit Gott im Gebet kommt der Mensch zu sich, findet er Ruhe und inneren Frieden. Augustin beschreibt anschaulich und lebendig, welche Wege er gehen musste, um zu Gott und zu seinem inneren Frieden zu finden. Manches wird man beim Lesen sonderbar finden, mit manchem wird man nicht einverstanden sein.
Und dennoch faszinieren Augustins Bekenntnisse, weil man in ihnen einem Menschen der Spätantike so begegnet als lerne man ihn persönlich und sehr sehr nahe kennen. Fast ist es, als gewönne man einen Freund, der sich einem offenbart und an seinen innersten Erfahrungen teilhaben lässt. Im Gebet, in der Begegnung mit Gott entdeckt Augustin sich selbst. Er findet Worte von großer poetischer Kraft:
„Spät habe ich dich geliebt, du Schönheit, so alt und doch so neu, spät habe ich dich geliebt! Und siehe, du wartest im Innern, und ich war draußen und suchte dich dort […]. Mit mir warst du und ich war nicht mit dir. […] Du riefest und schriest und brachst meine Taubheit. Du schillertest, glänztest und schlugst meine Blindheit in die Flucht. Du wehtest und ich schöpfte Atem und atme zu dir auf. Ich kostete dich und hungre und dürste. Du berührtest mich und ich entbrannte in deinem Frieden.“ (10. Buch, 27. Kapitel)
Im Gebet gewinnt Augustin Klarheit über sich selbst. Er lernte seine Gefühle kennen. Unverstellt kann er sich selbst betrachten und bekommt sich so, durch die Begegnung mit Gott im Gebet, verwandelt, bewusster, gestärkt und befreit zurück. Das ist nichts Geringes. Wer es erlebt, weiß wie kostbar das ist. Beten hilft.
Beten als Übung
Der Theologe Fulbert Steffensky hat das Beten einmal als Handwerk beschrieben. Es bedarf der Übung und der Wiederholung. Man kann es lernen. Dabei ist es wichtig sich nicht zu überfordern: Lieber weniger und dafür regelmäßig. Wem es schwer fällt, selbst ein Gebet zu formulieren, der kann sich an die Worte der Tradition anlehnen.
Steffensky schreibt: „Wir haben die Sprache unserer Toten, in die wir uns flüchten, wenn unsere eigene Zunge schwer ist. Wir haben das Vaterunser, die Psalmen die Gebete der Liturgie. Unsere Toten haben sie uns gewärmt mit ihren Seufzern und Hoffnungen. […] Wenn ich mich in ihre Worte flüchte, flüchte ich in ihre Frömmigkeit und in ihren Geist. Ich bin davon befreit, Original zu sein. Ich kopiere die Hoffnung von Generationen von Menschen […]. Nicht mein eigenes Feuer allein macht die Gebete brennend, es brennt durch das Feuer von allen. Ich füge mich ein in das große Lied, das alle singen, und ich kann weiterdichten am Lied, das noch nicht vollendet ist […]“ (aus: Chrismon 11/2005, S. 20)
Umgang mit Sterbenden und das Sterbesakrament
Jakobus schreibt: Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. (Jakobus 5,14) Dieser Satz aus dem Jakobusbrief hat eine große Wirkungsgeschichte. Der Besuch bei den Kranken und das Gebet für sie wurde geradezu zum Markenzeichen der frühen Christenheit.
Dass man die Kranken nicht abschiebt, sondern besucht, fiel in der Antike positiv auf und machte das Christentum anziehend für alle, denen Humanität wichtig war. Im Bereich der katholischen und der orthodoxen Kirche gibt es bis heute die Krankensalbung als Sakrament, meist bekannt als letzte Ölung. In der Krankenhausseelsorge gibt es solche Salbungen auch im evangelischen Bereich. Die Salbung ist eine Form der Zuwendung. Körperlich soll man erfahren: Du bist nicht allein. Gott ist bei dir.
Gebet als Fürbitte und Widerstand
Jesus war ein großer Beter. Ihm verdanken wir das Vaterunser. Das Vaterunser ist besonders, weil es zwar unsere Wünsche um das, was wir zum Leben brauchen, ernst nimmt: Unser täglich Brot gib uns heute. Das Vaterunser führt uns aber über diese elementaren Wünsche hinaus, indem es unser Wünschen auf das Reich Gottes richtet: Dein Reich komme, dein Wille geschehe. Nicht was wir wollen, soll passieren, Gottes Wille soll Wirklichkeit werden.
Das Vaterunser führt uns aus dem Egoismus unserer Wünsche hinaus, indem es uns auf andere, auf unseren Nächsten, auf die Welt hin öffnet. Im Beten des Vaterunsers stellen wir unser Leben, unser Tun und unser Lasen in den Horizont des Reiches Gottes. Wir setzen uns den Maßstäben Gottes aus. Wir werden von uns selbst und unseren engen Grenzen befreit und entlastet. Das ist heilsam, das hilft wirklich weiter, das tut der Welt gut.
Was das „dein Reich komme“ konkret bedeutet, buchstabieren wir in jedem Gottesdienst im Fürbittengebet durch. Wir denken dabei an die Kranken und Leidenden, wir denken an die Verfolgten und Entrechteten, an jene die Macht haben und an alle, die sich um andere kümmern. Indem wir in den Fürbitten die Menschen und die Welt vor Gott bringen, machen wir deutlich, dass wir die Verhältnisse, wie sie sind, nicht akzeptieren.
Wer um das Kommen des Reiches Gottes betet, leistet Widerstand gegen die Wirklichkeit wie sie ist. Das Gebet im Namen Jesu konzentriert unsere Aufmerksamkeit und unsere Kraft auf die Verbesserung der Welt. Im Beten beginnt Gottes Reich unter uns Raum zu gewinnen. Beten hilft. Wir gewinnen Klarheit über uns selbst. Wir lernen unsere Gefühle kennen und finden einen Ausdruck für sie. Beim Beten erzählen wir Gott unsere Lebensgeschichte und können inneren Frieden finden. Im Beten des Vaterunsers öffnen wir unser Wünschen auf andere hin, auf die Welt. Wir richten uns aus auf Gottes Reich und fangen so an die Welt zu verbessern. Beten hilft.
(Text mit freundlicher Genehmigung von Pfarrer Prof. Dr. Christoph Dinkel von der Evangelischen Kirchengemeinde Stuttgart-West)