
Barbara Rolf ist Direktorin Kultur & Bestattung bei der ahorn Kultur GmbH, dem jüngsten Unternehmenszweig der Ahorn Gruppe. Die studierte Theologin und Bestatterin setzt sich für eine Bestattungsarbeit ein, die natürlich ist und sich konsequent an den Wünschen und Bedürfnissen der Trauernden bzw. der Verstorbenen orientiert.
Ich freue mich, dass Frau Rolf sich die Zeit genommen hat, meine Fragen zu beantworten.
Frau Rolf, wie hat sich in Deutschland die Bestattungs- und Erinnerungskultur in den letzten Jahrzehnten verändert?
Barbara Rolf: Diese Veränderungen sind sehr vielfältig, komplex, fanden und finden auf ganz unterschiedlichen Ebenen statt. Das macht es schwer, das gänzlich zu verstehen und einfach zu beschreiben.
Der Spur nach würde ich sagen, dass der Tod in unserer Gesellschaft mehr und mehr zu einer organisatorischen Angelegenheit wurde, dann auch zu einer geschäftlichen. Schließlich besetzten Religionen das Thema oder versuchten es. Das Sterben fand immer seltener zu Hause, immer häufiger in Krankenhäusern statt, was ihm viel von seiner Natürlichkeit nahm, es vornehmlich als Problematik und etwas Pathologisches qualifizierte.

Dadurch wurde es unsichtbarer. Was früher meist im eigenen Haus und in der Nachbarschaft stattfand und damit erlebbar war, vollzog sich meist hinter verschlossenen Türen. Aufbahrungen zu Hause, offene Särge, Totenversorgung durch die Familie gab es kaum noch.
Was wir nicht sehen, erleben, begreifen können, ängstigt uns leicht. Fantasien und Spekulationen treten an die Stelle von Erfahrungen und Wissen.
Auch die wenig spirituelle und vornehmlich materielle Ausrichtung unserer Gesellschaft wirkt sich auf unseren Umgang mit Sterben und Tod aus. Tod stellt in Frage, was uns heilig ist – Jugend, Erfolg, Besitz u.v.a. Da fällt es schwer, ihn als Notwendigkeit, Verwandlung, Lebensprinzip anzunehmen. Ganz ähnlich oder vielleicht damit verwandt ist unser naturferner Lebensstil. Je stärker wir im Einklang mit der Natur leben, umso selbstverständlicher spüren wir den Kreislauf von Werden und Vergehen, Kommen und Gehen, Blühen und Welken, der ganz und gar stimmig ist und an dem wir Anteil haben.
Wer will ich gewesen sein und wie will ich erinnert werden?
Seit ca. 20 Jahren besinnen sich zunehmend viele Menschen wieder mehr auf Fragen nach Sinn, Zugehörigkeit, inneren Werten, Spiritualität, mentaler und seelischer Gesundheit, Mitmenschlichkeit, Natürlichkeit. Wer bin ich? Was ist mir wichtig? Was ist mir heilig? Wer will ich gewesen sein und wie will ich erinnert werden? In der ehrlichen Auseinandersetzung mit solchen Themen kommt die Endlichkeit zwangsläufig ins Spiel. So wächst die Bereitschaft und das Bedürfnis, sich mit Sterben und Tod auseinanderzusetzen, Wissen zu erlangen, sich vorzubereiten …
Auf der anderen Seite, wir kennen das Bild von der „Schere“, die immer größer wird, verstärkt sich die Betrachtung von Bestattung als Entsorgungsthematik: Reine Geldfrage, Acht- und Lieblosigkeit gegenüber Leichnamen, weil das Große und Heilige am Tod (und am Leben) nicht mehr verstanden und empfunden wird.
Wie gehen Sie mit den emotionalen Bedürfnissen der Hinterbliebenen um?
Barbara Rolf: Zunächst ist wichtig, völlig offen, also ohne Vorannahmen oder Erwartungen in solche Gespräche zu gehen. Zeit zu geben, Geduld zu haben und gemeinsam herauszufinden, was jetzt wichtig ist – und was nicht. Menschen zu ermutigen, ihre Emotionen zuzulassen, ihnen zu versichern, dass jede Emotion ok ist. Manchmal ist es wichtig, auf die Emotion hinter einer Emotion zu schauen. So ist zum Beispiel Wut in aller Regel eine Reaktion auf ein „noch unangenehmeres“ Gefühl wie Ohnmacht, Kränkung, Angst, Unsicherheit u.a.

Ich habe ganz oft die Erfahrung gemacht, dass sich Trauernde sofort besser fühlen, wenn sie sich wirksam erleben. Etwa, wenn ihre Fragen gehört werden, wenn sie sich gesehen, ernstgenommen, verstanden fühlen, wenn Wünsche umgesetzt werden, wenn man sie nach ihrer Meinung fragt, wenn sie etwas gestalten, kreativ werden, erledigt kriegen. Selbstwirksamkeit ist das Gegenüber von Ohnmacht und das Gefühl, das uns Boden unter die Füße schiebt.
Manchmal sind die emotionalen Bedürfnisse innerhalb einer Trauerfamilie oder -gemeinschaft sehr unterschiedlich. Dann braucht es viel kommunikatives und mitunter diplomatisches Geschick, damit niemand über Bord geht und alle tun und lassen können, was ihnen jeweils wichtig ist.
Wie stehen Sie zu dem sehr aktuellen Thema „Digital Afterlife Industry„, bei dem es um die Interaktion mit Verstorbenen über Chatbots oder Avatare geht?
Barbara Rolf: Das ist ein spannendes Thema. Zunächst bin ich immer erstmal offen gegenüber neuen Angeboten. Gäbe es keine Bedürfnisse in diese Richtung, gäbe es vermutlich auch die Angebote nicht.
Das Digitale spielt in unserer Welt eine riesige Rolle, und das wird noch mehr werden. Viele Menschen bewegen sich längst mehr in der digitalen als in der analogen Welt. Entsprechend verlagern sich auch Trauer, Erinnerung, Gedenken und Austausch dorthin.
Daran ist viel Gutes. Etwa, dass Teilhabe viel einfacher wird, weil man von überall zugreifen kann, auf eine Gedenkseite zum Beispiel, auf Social Media Profile im Gedenkmodus, auf gestreamte oder ganz virtuelle Trauerfeiern, auf Todesanzeigen, die online einsehbar sind, auf Online-Kondolenzbücher, Aufzeichnungen und vieles mehr.

Foto: Pixabay/Pete Linforth
Sehr skeptisch bin ich dann, wenn suggeriert wird, dass das Digitale den Tod überwindet – unseren eigenen oder den von nahen Menschen. Das tut es nicht. Was fortbesteht, sind Erinnerungen. Auch Interaktionen (Bots, Avatare, Hologramme u.a.) finden mit Erinnerungen statt, natürlich mit immer ausgeklügelteren. Das ist schon faszinierend. Und wenn es tröstet – super!
Dennoch: Wir werden sterben, damit sollten wir uns anfreunden. Und wir sollten Menschen Mut machen, ihre Sterblichkeit anzunehmen. Das ist nichts, wogegen sich zu kämpfen oder sich aufzulehnen lohnt. Jetzt leben wir. Und eines Tages ist dieses Leben zu Ende.
Was uns irdisch überdauert, ist unser Andenken, vielleicht unser Lebenswerk, vielleicht die Früchte von Samen, die wir gesät haben, unsere Geschichte, die die Welt zu einer anderen gemacht hat.
Ob unseren Köper ein Geist und / oder eine Seele überdauern, wissen wir nicht, doch die Menschheit geht schon immer und anscheinend von Natur aus davon aus. Daher glaube ich, dass da etwas dran ist. Doch dieses geistige oder seelische Fortbestehen hat mit Digitalisierung zweifellos nichts zu tun. Und das sollte auch keine Industrie behaupten, denn das wäre unanständig und meines Erachtens auch gefährlich, weil es uns noch weiter entfremdet von unserer Natur und unserem Wesen, die eigentlich beide sehr gut mit unserer Sterblichkeit umgehen können.
Die Bestattungskultur wandelt sich stetig, so wie sich Gesellschaft und Kultur an sich stetig verändern.
Welche Entwicklungen erwarten Sie in der Zukunft der Bestattungskultur?
Barbara Rolf: Ich gehe davon aus, dass der ökologische Aspekt von Bestattungen wichtiger wird.
Dass die Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Kontext Bestattung weiter sinken wird, was den Bedarf an anderer guter spiritueller Begleitung erhöhen wird.
Dass die Bestattungsgesetzgebung in Deutschland offener wird und den Menschen noch mehr Gestaltungsmöglichkeiten einräumen wird.
Dass sich Friedhöfe verändern.
Dass die Frage nach den Kosten einer Bestattung für viele Menschen wichtiger wird.
Und ganz vieles mehr.
Die Bestattungskultur wandelt sich stetig, so wie sich Gesellschaft und Kultur an sich stetig verändern.
Ich bin gespannt auf die kommenden Jahre und freue mich darauf, gemeinsam mit meinen Kolleg_innen gute Wege zu finden, auf den Wandel und die Bedürfnisse der Zeit zu reagieren.
Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? “Gebet ist für mich …”
Barbara Rolf: Gebet ist für mich die Vergewisserung, dass nicht alles von mir abhängt. Dass es ausreicht, mich zur Verfügung zu stellen und Gutes zu wollen. Dass ich tragen kann, weil ich getragen bin. Dass letzten Endes alles gut ist, weil wir Teil des großen Ganzen sind, das in ewiger, unendlicher Balance ist.
Ich danke für das Gespräch.
(Hinweis zu dem verwendeten Foto von Barbara Rolf: Die Bildrechte liegen bei Andreas Schmidt.)