Pfarrer Reiner Spiegel ist seit 1984 Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Düsseldorf, in der etwa 850 Männer inhaftiert sind. In fast 40 Berufsjahren hat er die unterschiedlichsten Menschen und deren Schicksale kennengelernt. Ich freue mich, dass sich Herr Spiegel zu diesem Interview bereit erklärt hat.
Zwischen dem Urlaubspfarrer auf Mallorca und dem Gefängnisseelsorger liegen sicher Welten. Wie kam es, dass Sie letzteres wurden? War es Ihre freie Wahl?
Herr Pfarrer Spiegel: Ich wollte immer schon Jugendseelsorger werden und als ich 1983 (damals noch Kaplan in einer Pfarrgemeinde und Bezirkskaplan der Christlichen Arbeiterjugend – CAJ – im Bezirk Düsseldorf/Neuss/Mettmann) zum Diözesankaplan der CAJ im Erzbistum Köln gewählt wurde, war dies nur eine halbe Stelle. Normalerweise wäre die andere Hälfte der Arbeitszeit als Religionslehrer an einer Berufsschule gefüllt worden. Da aber zu dieser Zeit wieder einmal Streit zwischen der Landesregierung NRW und den Kirchen wegen des schulischen Religionsunterrichtes herrschte, wurden keine Priester ausschließlich als Religionslehrer eingestellt. Nach Gesprächen und Beratungen mit verschiedenen Kollegen und Freunden sagte der damalige Präses der KAB (Katholische Arbeitnehmer-Bewegung) zu mir: „Wäre nicht Knast etwas für Dich?“
Als Priester fühlte ich mich ohnehin mehr zu denen gesandt, die am Rande der Gesellschaft leben.
Nachdem ich mich informiert und ein längeres Hin und Her mit der Personalkonferenz des Erzbistums stattgefunden hatte, setzte der damalige Weihbischof Luthe durch, dass ich mit einer halben Stelle in die JVA Düsseldorf gehen konnte. Ich wagte diesen Schritt, weil ich von 1972 bis 1976 einen jugendlichen, dann erwachsenen Strafgefangenen begleitet und durch ihn viele verschiedene Gefängnisse kennengelernt hatte. Außerdem hatte ich einiges in Gesprächsführung gelernt. Hinzu kam noch die Aussage einiger Personen in meiner Kirchengemeinde: „Sie haben ja mehr mit denen zu tun, die nicht in die Kirche kommen, als mit denen, die jeden Sonntag da sind!“ Da dachte ich: Dann bist Du bei der CAJ und im Knast gerade richtig! Als Priester fühlte ich mich ohnehin mehr zu denen gesandt, die am Rande der Gesellschaft leben, als zu denen, die „nur religiöse Gefühle befriedigt bekommen wollten“. – Als nach vier Jahren die Zeit bei der CAJ endete, blieb ich voller Begeisterung ganz im Knast, Erfüllung bis heute! In den Knast zu gehen, war also freie Entscheidung und geglückte Sendung.
Seien es katholische, evangelische, orthodoxe, islamische oder sonstige Glaubensrichtungen – in einer JVA sind vermutlich alle Religionen bzw. Konfessionen vertreten. Sind Sie seelsorgerischer Ansprechpartner für alle Gläubigen oder decken Sie “nur” den katholischen Bedarf ab?
Herr Pfarrer Spiegel: Zunächst einmal besagen die Verträge zwischen Staat und Kirchen, dass wir als Seelsorger*innen für alle Inhaftierten und alle Bediensteten zuständig sind. Unsere religiösen Angebote (Gottesdienste, Sakramente, Gruppenveranstaltungen) entsprechen natürlich unserer Konfession. Es gibt aber keine Ausschlusskriterien außer Störungen, Blödsinn machen u.ä. Die Seelsorger*innen entscheiden über die Zulassung zu den Veranstaltungen. In unserer JVA können die Inhaftierten bezüglich des Gottesdienstes zwischen katholisch, evangelisch und muslimisch wählen. Angebote, die keine speziell christliche Ausrichtung haben, z.B. Kulturveranstaltungen, sind offen für alle.
Ich sehe mich zu allen gesandt, denn Jesus kam zu retten, was verloren und zu heilen, was verwundet ist.
Es gibt bei Bedarf auch religiöse Angebote, Einzelgespräche, Gottesdienste und Gruppenveranstaltungen für andere Konfessionen bzw. Religionen und in anderen Sprachen. Wir sind verpflichtet, auf Nachfrage jedem Inhaftierten die religiöse Betreuung seiner Glaubensgemeinschaft zukommen zu lassen. Das organisieren wir von Fall zu Fall. Zu Einzelgesprächen kann sich jeder Inhaftierte oder Bedienstete an jede/n Seelsorger/in wenden. Wir vermeiden allerdings Doppelbegleitungen. Von mir aus sehe ich mich zu allen gesandt, denn Jesus kam zu retten, was verloren und zu heilen, was verwundet ist. Ich sehe also den Auftrag der Kirchen in der Welt als Sendung der Christen zu allen Menschen. Allerdings bin ich im Gefängnis nicht zum Missionieren. Im Evangelium ist „auch nur“ die Rede von „Gefangene besuchen“! Als Beispiel: Wenn jemand getauft werden will, bin ich sehr zurückhaltend. Gerne erledige ich die Vorbereitungszeit im Gefängnis. Die Taufe (und damit die endgültige Entscheidung) muss in Freiheit stattfinden. Die Erfahrung lehrt, dass sich ungefähr 2/3 der Vorbereiteten nach der Entlassung tatsächlich zur Taufe melden.
Wenn ich darüber nachdenke, was das für Taten sein müssen, deretwegen Menschen eine Haftstrafe verbüßen, dann fällt es mir schwer, mir vorzustellen, dass diese Menschen das seelsorgerische Gespräch suchen oder gar den Wunsch verspüren zu beten. Aber mit dieser Einschätzung liege ich sicher falsch, oder?
Herr Pfarrer Spiegel: Der größte Teil der Inhaftierten leidet an irgendeiner Sucht (Medikamente, Alkohol, Drogen o.ä.) oder ist mehrfach abhängig. In diesem Zusammenhang entsteht die Straffälligkeit, also oft Beschaffungskriminalität. Inhaftierte mit schwerwiegenden Verbrechen machen nur einen kleinen Teil der Gefangenen aus.
Viele Inhaftierte suchen das Gespräch mit den Seelsorger*innen, manchmal sehr verhalten in der Kontaktaufnahme. Da müssen wir sehr wach sein nach dem Motto: Bitte höre, was ich nicht sage! Für viele sind diese Gespräche die erste Erfahrung in ihrem Leben, dass ihnen jemand ernsthaft zuhört, und dies ohne moralisch erhobenen Zeigefinger, ohne Besserwisserei, ohne Problemlösungs-„Weisheiten“. Und unzählige mal habe ich nach einem ersten Gespräch zu hören bekommen: „So habe ich noch nie über mich gesprochen.“
In den meisten Gesprächen geht es nicht um Straftaten, sondern um katastrophale Lebenserfahrungen.
Eine große Rolle spielt für die Gesprächspartner, Inhaftierte wie Bedienstete, dass wir Schweigepflicht und Schweigerecht haben, also nichts aus den Gesprächen weitergeben dürfen. Dabei geht es in den meisten Gesprächen nicht um Straftaten, sondern um katastrophale Lebenserfahrungen. Und wenn dann die Frage kommt: Was soll ich denn nun tun?, dann antworte ich immer: Ich weiß es auch nicht, aber wir können gemeinsam suchen. – Oft gehen die Gespräche irgendwann in die Richtung der Fragen nach dem Sinn des Lebens. (Der Gesprächspartner würde dies nie so bezeichnen, aber es ist so.) Und manches Mal werde ich nach meinem Glauben, meinem Lebenssinn, meinem tragenden Hintergrund gefragt. Dann antworte ich. Aber es bleibt dabei: Jeder muss seinen eigenen Lebenssinn entdecken.
Zum Gebet: Gottesdienste und Gruppenveranstaltungen sind gut besucht. Beim Kirchenchor der Inhaftierten (wegen Corona zurzeit Pause) sowie der Kath. Kirchengruppe gibt es eine Teilnehmerbegrenzung und fast immer eine Warteliste. Interessant ist die Tatsache, dass bei der Kirchengruppe Meditation, Stille und Schweigen sehr beliebt sind. In diesem lauten Knast ist es eben nie wirklich still, außer in der Kirche.
Was das persönliche Gebet angeht, so bin ich davon überzeugt, dass die meisten Inhaftierten beten, ganz gleich, welchen Glauben oder ob sie überhaupt einen Glauben haben. Aber ich will direkt einer falschen Sicht vorbeugen. Der Spruch: „Not lehrt beten!“ stimmt meiner Erfahrung nach allgemein nicht. Untersuchungen haben gezeigt, dass ungefähr die Hälfte der in Not geratenen Menschen aufhört mit dem Beten.
Gibt es in den vielen Jahren Ihrer Tätigkeit ein besonders berührendes Erlebnis, das Ihnen im Zusammenhang mit dem Beten im Gedächtnis haften geblieben ist?
Herr Pfarrer Spiegel: Es gibt keine einzelnes besonders berührendes Erlebnis, das ich im Knast mit dem Beten verbinden könnte, wohl einige eindrückliche Erfahrungen:
- Zum Abschluss des Treffens der Kirchengruppe gibt es immer ein von mir bezogen auf den Inhalt des Abends frei formuliertes Gebet, das mit dem Segen abschließt. Das hatte ich einmal vergessen. Da kam sofort Protest: “Wir müssen noch beten!“
- Bis 2011 hatten wir in Düsseldorf auch eine Jugend-Untersuchungshaftanstalt. Dort hatte ich mit Ehrenamtlichen sehr viele Gruppen eingerichtet, u.a. Kochgruppen. Als eine dieser Gruppen sich nach dem Kochen an den Tisch setzte und mit dem Essen beginnen wollte, sagte ein Afrikaner: „First we have to pray!“, und betete selbstverständlich in seiner Sprache. Die Köpfe aller (wilden) Jungs gingen nach unten und keiner machte Faxen. Und nach dem Gebet begann das Mahl.
- Was mich in all den Jahrzehnten immer wieder beeindruckt, ist die Aufmerksamkeit und Ernsthaftigkeit beim Ablauf von besonderen Riten, Segnungen, Weihwasser, Weihrauch, Glockenläuten, u.a. und dazu das Einhalten der Stille und des Schweigens. Offensichtlich genießen diese Menschen, die so oft von Süchten, ADS und ADHS geplagt werden, die Ruhe, die sie selbst nicht herstellen können.
- Und vor einigen Wochen sagte mir einer meiner Kirchenhausarbeiter (= Küster): „Es ist schön, dass Sie uns immer alles in unserer Sprache erklären. Das tut gut.“ – Und das sagt mir einer, der „draußen“ mit der Kirche nichts zu tun hat, wohl weil da „draußen“ niemand von der Kirche mit ihm etwas zu tun haben will. Die Lebenswelten liegen eben weit, sehr weit auseinander. Jesus hat die Grenzen der verschiedenen Lebenswelten durchbrochen. Auch deswegen wurde er offiziell ermordet.
Wie würden Sie den folgenden Satz fortsetzen? “Gebet ist für mich…”
Herr Pfarrer Spiegel: Gebet ist für mich
- schweigen;
- hören;
- Leere aushalten;
- das Anschauen eines Kreuzes mit einem kurzen Verweilen;
- lesen in den Heiligen Schriften;
- Gottesdienst feiern;
- gemeinsam Gebete sprechen und singen;
- warten auf den EWIGEN;
- damit rechnen, dass der EWIGE auf mich wartet;
- mich immer wieder daran erinnern lassen, dass ich mir kein Bild machen darf, nicht von IHM und nicht von Menschen.
Ich danke für das Gespräch.